Deutscher Murks mit Kindergeld : KOMMENTAR VON HEIDE OESTREICH
Einen Systemwechsel in der Familienpolitik feierte die große Koalition gestern, aber nicht alle werden mitfeiern. Denn erstens hat die Regierung es geschafft, aus dem skandinavischen Wohlfahrtsmodell des Elterngeldes ein Elterngeld für Reiche zu schnitzen, das arme Familien eklatant benachteiligt. Zweitens erfolgt der Systemwechsel ohne System: Wenn alle Eltern 14 Monate nach der Geburt wieder arbeiten sollen, dann müssen die Kinder ab diesem Zeitpunkt betreut werden.
Solche Betreuungsplätze für Kleinkinder – auf einem qualitativ hohen Niveau – gibt es aber in weiten Teilen der Republik nicht. Das hehre Ziel also, den Müttern den Wiedereinstieg in den Beruf nach einem Jahr zu ermöglichen, kann nicht erreicht werden. Nach einem Jahr werden die Mütter vielmehr in Scharen daheim ihre Kinder weiterbetreuen, und das, im Gegensatz zu heute – ohne Erziehungsgeld.
Das macht reicheren Familien weniger aus als Armen. Denn sie können ihr relativ hohes Elterngeld auf zwei Jahre strecken oder sich eine teure Tagesmutter oder Kinderfrau leisten. Die Armen aber brauchen ihr ganzes Elterngeld im ersten Jahr und haben im zweiten nichts mehr. Was also auf den ersten Blick unglaublich progressiv und skandinavisch daherkommt, ist auf den zweiten Blick echt deutscher Murks auf Kosten armer Leute.
Die Erklärung der Regierung lautet, die Mütter sollten sich eben nicht mehr im Transfersystem – gemeint ist: mit Geld vom Staat – häuslich einrichten. Solange diese Mütter aber weder Betreuungs- noch Arbeitsplätze haben, bleiben sie ALG-II-Empfängerinnen. Der Anreiz zur Arbeit ist da – aber wo finden sie einen Job?
Ob also der Systemwechsel wirklich gelingt, hängt nun von zweierlei ab: erstens davon, ob der Ausbau der Kinderbetreuung nun wirklich zügig vorangeht. Und zweitens davon, ob die Arbeitsmarktpolitik tatsächlich allen Müttern eine Arbeitsmöglichkeit verschafft, mit der sie das ausfallende Erziehungsgeld kompensieren können. Ansonsten muss man davon ausgehen, dass die Regierung statt eines skandinavischen eher ein amerikanisches System favorisiert: Wer arm ist, wird schlicht abgehängt.