Der Kwaito wütet

Als klassische Erlösungsgeschichte aus Südafrika hat Gavin Hoods „Tsotsi“ in diesem Jahr den Oscar für den besten internationalen Film gewonnen

VON LEA STREISAND

Zäune markieren Territorien, zu denen Unbefugten der Zutritt verwehrt wird. Tsotsi ist ein Unbefugter. Seine Welt ist von Barrieren durchzogen. Der Junge, der seinen eigentlichen Namen mit seiner Kindheit abgelegt und verdrängt hat, nennt sich selbst Tsotsi. Das Wort bedeutet im Straßenslang schlicht Schläger oder Gangster. Als Kopf einer kleinen Gang, bestehend aus dem brutalen Butcher (Zenzo Ngqobe), dem gescheiterten Lehrer Boston (Mothusi Magano) und dem schwerfälligen Aap (Kenneth Nkosi), zieht der 19-Jährige stehlend und marodierend durch die südafrikanische Großstadt Johannesburg. Die Gewalt gehört zum Alltag der jungen Männer, sie ist eiskalt und eruptiv, ihre einzige Beschäftigung und ihr Lebensunterhalt. Selbst vor Mord schrecken die vier nicht zurück.

Gavin Hood hat mit „Tsotsi“ ein Sozialdrama gedreht, das eindrücklich zeigt, wie Grenzen in Südafrika nicht mehr zwischen Schwarz und Weiß, sondern zwischen Arm und Reich verlaufen. Eine solche Grenze markiert das elektrische Tor in einem der Villenvororte, vor dem Tsotsi eines Nachts fast zufällig eine junge schwarze Frau niederschießt und ihren Wagen stiehlt. Auf dem Rücksitz des Autos findet er ein wenige Monate altes Baby, das er mitnimmt in seine Welt.

Nach dem gleichnamigen Roman des südafrikanischen Autors Athol Fugard erzählt Hood eine klassische Erlösungsgeschichte. Presley Chweneyagae spielt Tsotsi anfangs mit bedrohlich zusammengekniffenen Augen, die Bewegungen sind geschmeidig, blitzschnell im Angriff. Ein Kindergesicht mit der taxierenden Mimik eines Killers. Kein Gefühl scheint den Jäger zu verunsichern. Als der Junge zum Gejagten wird, öffnet sich sein Gesicht. Die Sorge um das kleine Kind führt ihn dazu, sein eigenes Leben zu reflektieren, was der Film in Rückblenden sichtbar macht. Und es wird klar, dass auch dieser Täter ein Opfer seiner Sozialisation ist.

Fugards 1980 erschienener Roman spielt während der 50er-Jahre. Wie in den meisten seiner Werke liegt hier das Hauptaugenmerk beim individuellen Drama der Charaktere. Der Stoff lässt sich daher gut aktualisieren. Für die bessere Einfühlung und nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen wurde die ursprünglich erwachsene Figur des Tsotsi außerdem um gute zehn Jahre verjüngt.

Im Wide-Screen-Format werden dem Zuschauer der Schmutz und das Elend Sowetos, der größten aller Townships, vor Augen geführt. Die Gassen sind eng und so unübersichtlich, dass selbst die Bewohner sich in ihnen verlaufen, Tsotsis Baracke ist klein und düster. Von der großen Stadt Johannesburg sieht man mit Tsotsi nur die U-Bahn-Schächte – den Untergrund – und die Skyline. Funkelnd, verführerisch und unerreichbar.

Hood verzichtete ganz auf berühmte Namen in der Besetzungsliste und drehte den Film mit ausschließlich südafrikanischen Schauspielern. Einige, wie der bestechende Hauptdarsteller, stammen selbst aus ärmlichen Verhältnissen. Die Sprache des Films ist das sogenannte Tsotsitaal, der Straßendialekt der Townships, eine Mischung sämtlicher lokaler Stammessprachen mit dem offiziellen Afrikaans und Englisch. Auch die Musik kommt von der Straße, die pumpenden Beats des Kwaito treiben den Film an. Der Sound verbindet tiefer gelegte, verlangsamte House-Rhythmen mit Elementen des amerikanischen Hiphop, des Jazz und traditioneller afrikanischer Musik. Die Kwaito-Labels entwickelten sich innerhalb weniger Jahre von belächelten Independent-Firmen zu den erfolgreichsten Produzenten des Landes. Die wütenden treibenden Rhythmen halfen, ein Gefühl von Optimismus und Selbstbewusstsein in der Zeit nach der Apartheid zu vermitteln. Kwaito-Star Zola lieferte einen Großteil des Soundtracks. Die ruhigen Szenen werden von der sphärischen Musik Vusi Mahlaselas getragen.

Nachdem die Bizet-Adaption „U-Carmen“, die ebenfalls in einer südafrikanischen Township spielt, vor einem Jahr den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen hatte, konnte Gavin Hood für „Tsotsi“ dieses Jahr den ersten Oscar der Filmgeschichte nach Südafrika bringen. Das Land ist heute der „westlichste“ aller afrikanischen Staaten, doch das Erbe des Apartheid-Regimes ist zwischen den Wellblechbaracken der Townships konserviert. Wer hier zum Tsotsi wird, der kommt aus dem Kreislauf der Gewalt nur schwer wieder heraus. Die Armen führen Randexistenzen wie in ganz Afrika, wenige von ihnen werden sich den Film im Kino ansehen können. Die Reichen aber leben nach europäischem Standard. Filme wie „Tsotsi“ werden für ein internationales Publikum gedreht. Dessen Aufmerksamkeit ist ihnen nun wenigstens einen weiteren Kinoabend lang sicher.

„Tsotsi“. Regie: Gavin Hood. Mit Presley Chweneyagae, Mothusi Magano u. a. Großbritannien/Südafrika 2005, 95 Min.