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Archiv-Artikel

Aus einem komplexen Land

Mal voller Wut, mal voller Witz: Das politische Kino des israelischen Filmemachers Avi Mograbi zehrt von großem Scharfsinn und von einer Klarheit, die sich die Dinge nicht zu einfach macht. Eine Begegnung am Rande des Filmfestivals von Nyon

„In den Erzählungen von Israelis und Palästinensern“, sagt Mograbi, „kommt der jeweils andere schlicht nicht vor“

VON CRISTINA NORD

Manchmal umarmen ihn die falschen Leute. „Es ist kein gutes Gefühl“, sagt Avi Mograbi, als wir uns am Freitagnachmittag zum Gespräch treffen, „wenn man einem Publikum gegenübersteht, das einen lobt, und zugleich schwingt mit, dass dieses Publikum einfach nur glücklich ist, weil ich Israel kritisiere, ganz unabhängig davon, was ich sage. Ich möchte von solchen Leuten nicht unterstützt werden, und ich möchte auf keinen Fall, dass sie denken, wir teilten dieselben Vorstellungen.“

Was Avi Mograbi damit meint, lässt sich erahnen, als sein jüngster Film, „Avenge but one of my two Eyes“, wenige Stunden nach unserem Gespräch gezeigt und diskutiert wird. Eine Zuschauerin bedankt sich eine Spur zu überschwänglich, kaum dass das Licht im Capitole-Kino im schweizerischen Nyon angegangen ist, und eine Spur zu schnell findet sie ihre Argumente. Nur eine Sache erstaunt sie: dass Mograbis Film mit Mitteln der staatlichen israelischen Filmförderung finanziert wurde. „Wissen die denn, was sie unterstützen?“, fragt sie, als läge es jenseits des Vorstellbaren, dass ein staatliches Gremium der Kulturförderung einem Filmprojekt Geld zubilligt, das die Politik dieses Staates in Frage stellt. „Schauen Sie“, erwidert Avi Mograbi geduldig, „Israel ist keine Diktatur südamerikanischen Zuschnitts. Israel ist eine wunderbare Demokratie, solange Sie jüdisch sind. Israel ist ein komplexes Land.“

Diesen Umstand übersehen viele, die Kritik an der israelischen Politik üben. Avi Mograbi, 1956 in Tel Aviv geboren, übersieht ihn nicht – und kritisiert trotzdem, mal voller Wut, mal voller Witz, und das seit 1982, seit er sich weigerte, als Soldat der Reserve für den Einsatz im Libanon bereitzustehen. Dafür nahm er eine Gefängnisstrafe in Kauf. Seine Form des politischen Kinos zehrt von seinem Scharfsinn und von einer Klarheit, die sich die Dinge gleichwohl nicht zu einfach macht. Grund genug für das Festival Visions du Réel, Avi Mograbi eines der beiden Ateliers zu widmen: Das ausführliche Werkstattgespräch mit dem Filmemacher und die Werkschau bildeten einen Höhepunkt des Festivals, das am Wochenende in der am Genfer See gelegenen Kleinstadt Nyon zu Ende ging.

„Avenge but one of my two Eyes“ untersucht, wie Mythen in die Gegenwart ragen. Es geht darin zum einen um die alttestamentarische Geschichte von Samson, zum anderen um die der Festung Massada. Nachdem er seiner übernatürlichen Kräfte beraubt worden war, riss Samson mehrere tausend Philister mit in den Tod, indem er Stützpfeiler in einem Tempel zum Einsturz brachte. Massada wiederum war eine Stadt auf einem Hochplateau in der Wüste, in der vor 2.000 Jahren Zeloten der römischen Belagerung trotzten, bis sie keinen anderen Weg mehr sahen als den Massenselbstmord. Beide Geschichten haben mit dem zu tun, was Mograbi während unseres Gesprächs die „Kultur des Todes“ nennt, mit der für das jüdisch-israelische Selbstverständnis grundlegenden Dichotomie von „Freiheit versus Tod“. Nur ein Leben in Freiheit, in politischer und territorialer Selbstbestimmung, ist lebenswert, alles andere ist genauso schlimm wie der Tod.

Beide Geschichten, betont Mograbi, seien allgegenwärtig im heutigen Israel. Zehnjährigen Schülern wird Samson im Religionsunterricht als heldenhafte Figur nahe gebracht, und „jeder jüdische Teenager klettert, wenn er 16, 17 Jahre alt ist, den Berg von Massada hinauf“. Was auf dem Plateau im Licht der ersten Sonnenstrahlen geschieht, zeigt der Film anhand einer Gruppe heranwachsender Israel-Besucher. Sie nehmen an einer Reise teil, die ihnen in einem Crash-Kurs die Grundlagen des israelischen Selbstverständnisses vermitteln soll. Von ihrem Lehrer wird die Gruppe zu einem Experiment angehalten. Die Jugendlichen sollen wählen, was sie tun würden: sich ergeben, sich mit Waffengewalt verteidigen, beten oder sich umbringen. Für die Option, sich zu ergeben, entscheidet sich niemand.

„Avenge but one of my two Eyes“ führt aber auch vor Augen, wie sich die Fronten verhärten und Dialoge unmöglich werden, sobald Geschichte und Mythos nach der Gegenwart greifen. Zwar strapaziert Mograbi mögliche Analogien zur heutigen Situation in Nahost nicht über die Maßen, dennoch stellt sich die Frage, warum Samson, der mit seinem Selbstmord absichtsvoll mehrere tausend Menschen tötete, im israelischen Schulunterricht als Held gefeiert wird, während das Land zugleich unter den Selbstmordattentaten radikaler Palästinenser leidet. Und auf dem Hochplateau von Massada wird deutlich, dass eine Erinnerungspolitik, die den Tod feiert, in die Sackgasse führt. Denn welche Chance kann politisches Handeln haben, wenn die Überlieferung den Tod als einzige Option ausgibt? Kann man vor diesem Hintergrund überhaupt wahrnehmen, dass es nicht nur die Logik des Todes, sondern auch die der Verhandlung gibt?

Anders als die meisten Arbeiten Mograbis ist „Avenge but one of my two Eyes“ ein ernster Film, obwohl er nicht so konzipiert war. Mograbi ließ sich die Haare lang wachsen, um selbst als Samson aufzutreten, doch im Verlauf der Postproduktion, in den langen Stunden, in denen er das Material am Schnittcomputer sortierte, kam der Filmemacher von dieser Idee ab, da sie dem Sujet nicht gerecht wurde. „Was ich drehte“, sagt er, „war eine Tragödie; das prägte den Tonfall des Filmes.“ In der zuvor entstandenen Trilogie – „How I Learned to Overcome my Fear and Love Arik Sharon“ (1997), „Happy Birthday Mr. Mograbi“ (1999) und „August“ (2002) – ist das anders: Darin inszeniert sich der Regisseur mal mit trockenem Humor, mal in Sequenzen entfesselten Nonsens.

Mograbi, Enkel eines Kinogründers, Sohn eines Kinobetreibers, besitzt ein gutes Gespür für Pointen, und er besitzt eine Menge clownesker Talente. Unter Beweis stellt er sie, wenn er sich selbst filmt – bald als leicht fiktionalisierte Version seiner selbst, bald als Prototyp des linken israelischen Intellektuellen, bald in der Rolle seiner Ehefrau Tammi, bald als sein Produzent. In „August“, dem Protokoll einer hochsommerlichen Anspannung, die nicht nur den Filmemacher, sondern das ganze Land um den Verstand bringt, inszeniert er einen heftigen Streit zwischen Tammi und dem Produzenten. In der Rolle Tammis trägt Mograbi ein rosafarbenes Handtuch, das er sich einem Turban gleich um den Kopf gewickelt hat, in der Rolle des Produzenten ein Basecap, Schauplatz ist das eigene Wohnzimmer. Damit sich beide Figuren auf derselben Leinwand begegnen, arbeitet Mograbi mit Splitscreen-Anordnungen. Tammi befindet sich in der linken Bildhälfte, der Produzent in der rechten, sie schreien sich über die Nahtstelle in der Mitte der Leinwand hinweg an, und besonders aberwitzig wird es, wenn sie im selben Augenblick von der einen in die andere Bildhälfte wechseln: In diesem Moment geht Avi Mograbi gewissermaßen durch sich selbst hindurch.

Eine Schlüsselszene in Mograbis Oeuvre zeigt den Filmemacher an seinem Arbeitstisch, im Fernsehgerät laufen Nachrichten, zeitgleich telefoniert er mit einem palästinensischen Freund oder Bekannten. In dem Kurzfilm „Wait, it’s the Soldiers, I’ll hang up now“ (2002) ist dieses unsichtbare Gegenüber der Medienpädagoge George Khleifi, dessen Haus in Ramallah kurz vor dem Telefonat von israelischen Soldaten durchsucht wurde. Das Gespräch endet abrupt, als die Soldaten erneut vor Khleifis Tür stehen. „Ich habe nicht den Mut, als Kriegsberichterstatter zu arbeiten“, sagt Mograbi. „So engagiert ich auch sein mag, mein Leben will ich nicht riskieren.“ Also nutzt er die Telefonate, um die Ereignisse im Westjordanland und im Gaza-Streifen in seinen Filmen präsent zu machen. „Wenn man sich die Erzählungen von Israelis und Palästinensern ansieht“, sagt Mograbi, „merkt man, dass darin die Erzählung des jeweils anderen schlicht nicht vorkommt, sie wird nicht mal in Erwägung gezogen. Ob der andere nun Recht hat oder nicht, ist dabei gar nicht der Punkt – der Punkt ist, dass es den anderen gibt.“ Darauf verweisen die Telefonsequenzen, darauf verweist Mograbis ganzes Oeuvre mit Nachdruck.

Noch eine weitere Schlüsselsequenz gibt es: die, in der Mograbi dazu aufgefordert wird, die Kamera auszuschalten. In „Avenge but one of my two Eyes“ geschieht dies, als er Soldaten an einem Checkpoint filmt. Die jungen Männer in den Uniformen hindern Schulkinder daran, auf die andere Seite zu gelangen. Mograbi selbst bleibt unsichtbar, da er die Kamera führt; um ihn herum bilden die Soldaten einen Kreis, sie strecken ihre Hände nach dem Objektiv, um der Kamera die Sicht zu versperren. „Fassen Sie mich nicht an“, sagt Mograbi. „Lassen Sie die Kamera in Ruhe.“ Die Soldaten drängen: Er müsse eine Drehgenehmigung vorweisen. In Israel jedoch, erläutert Mograbi in Nyon, bedarf es im öffentlichen Raum keiner solchen Genehmigung, vielmehr müssten die Soldaten nachweisen, dass ihre Aktion der Geheimhaltung unterliege und deswegen das Drehen ausdrücklich verboten sei.

In „Avenge but one of my two Eyes“ endet die Konfrontation im Sinne Mograbis, die Soldaten ziehen sich in ihren Jeep zurück und fahren davon. Wütend ruft ihnen der Filmemacher nach: „Kennen Sie das Wort ‚Entschuldigung‘?“