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Archiv-Artikel

Das ganze Leben als Telefonat

THEATERTREFFEN Rhythmische Sportgymnastik trifft auf Seifenoper, Avantgarde reibt sich an Unterhaltungsindustrie: Beim Nature Theater of Oklahoma ist mit allem zu rechnen

Identifikation wird hintertrieben. Man steht in der Geschichte und außerhalb

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Ihren Namen fand die New Yorker Off-Off-Gruppe in Franz Kafkas Roman „Amerika“, in dem das Naturtheater von Oklahoma jedem, der zu ihm kommt, Arbeit verspricht. Dass die Träume von Einwanderern oft nicht in Erfüllung gehen, weiß nicht nur Pavol Liska, slowakischer Abstammung, der zusammen mit Kelly Copper für Regie und Konzept des Nature Theaters verantwortlich ist.

Warhols Vorliebe

Mit Andy Warhol teilen die beiden eine Vorliebe für mitgeschriebene Telefongespräche als erweiterte Literatur. Vor drei Jahren betraten sie auf dem Steirischen Herbst in Graz das erste Mal die europäische Festivalszene; zum Theatertreffen sind sie mit ihrer ersten Koproduktion mit dem Burgtheater Wien eingeladen. Aufführungsort in Berlin sind die Sophiensæle, deren abgeschabter Charme gut passt zur Lowtech-Mentalität der Inszenierung: Nach Luxus darf hier nichts aussehen.

Und so kommen sie mit singender Säge und Querflöte als Schmalspurversion eines Orchesters, um dreieinhalb Stunden lang die singenden Schauspieler durch ihren endlosen Text zu begleiten. Die blauen Kittel der Musiker und die grauen der Schauspieler könnten in einem Gefängnis genäht worden sein. Begrenzt ist auch das Bewegungsrepertoire, das abgezirkelte Übungen aus Choreografien für die Massen aus den Tagen des untergegangen Kommunismus zitiert.

Wenn die Stimme der Erinnerung in einen Raum mit gelben oder pinkfarbenen Tapeten zurückkehrt, wird das Licht gelb oder pink. „I remember“ – unter diesem sentimentalen Vorzeichen steht der ganze Text. Er entstand, in dem Kristin Worrall, die mit der Querflöte am Bühnenrand sitzt, ihr Leben am Telefon erzählte: „Life and Times. Episode 1“ beginnt mit der Beschreibung von Babyfotos, hält sich lange im Kindergarten auf und endet bei den Freundschaften in der dritten Klasse. Vermutlich wurde noch in keinem Theater oder Film der Betrachtung der ersten Lebensjahre im weißen Mittelstand mehr Zeit gewidmet. Und das gleich von sechs Performern, drei US-amerikanischen Frauen und drei jungen Schauspielern von der Burg.

Natürlich ist das ebenso banal wie anschlussfähig. Beinahe jeder könnte so eine ähnliche Geschichte von den Häusern der ersten Freundinnen und den ersten Beobachtungen sozialer Unterschiede erzählen; aber wer käme schon darauf, große Oper daraus zu machen?

Wo jedes „Ähm“ von der Musik bedeutungsvoll gestützt wird und sich im Raum zur großen Geste auffaltet. Wo die Bewunderung für die Frisur der Mutter emotional aufgeladen ist, wie sonst nur die Liebesszene im Musical. Die Musik von Robert M. Johanson spielt mit vielen Klischees, zitiert Country und Weird Folk, nutzt das Rezitativ als dramatische Form, macht Anleihen bei Filmmusik und Expressionismus und verrührt alles, leicht ironisch selbstverständlich, zu einer sentimentalen Soße. Dass dies trotzdem nicht kitscht, verdankt sich dem Aufführungskonzept: Identifikation wird ständig hintertrieben. Das Double-Tasking von Singen und Gymnastik, das ständige Wippen der Schauspieler, deren Kniegelenke am Ende ebenso müde sein müssen wie ihre Stimmen, stellt eine eigenartige Aufspaltung der Wahrnehmung her.

Man ist in der Geschichte und zugleich außerhalb, man sieht der Arbeit an ihrer Herstellung zu, die der Infantilität und Simplizität zum Trotz auch etwas verzweifelt Angestrengtes hat. Kindheit, das scheinbar Selbstverständliche, wird so auch als gewaltige kulturelle Konstruktion sichtbar. Für das Theatertreffen in Berlin, das jedes Jahr zehn besondere Inszenierungen auswählt, ist das Nature Theater of Oklahoma auf jeden Fall ein Fremdkörper, nicht nur durch die englische Sprache (mit deutschen Übertiteln), sondern mehr noch durch das Gefühl.

Hier greift jemand zu den Mitteln des Theaters, der sich da nicht zu Hause sieht. Sondern aus einer von Unterhaltungsformaten überfüllten Gegenwart auf das Theater wie auf etwas zugreift, das die Betriebstemperatur der Kultur runterkühlt, bis man sie wie in einem Labor zerlegen und analysieren kann. Theater als ein solch analytisches Hilfsmittel zu instrumentalisieren, das ist es, was das Nature Theater interessant macht.

Seltsames Zeitkonzept

Interessant allerdings vor allem für ein Publikum, das an der Theorie des Theaters ebenso interessiert ist wie an intellektuellen Kunstkonzepten. Dass dies auch beim Publikum des Theatertreffens nur bedingt zutrifft, konnte man an den nach der Pause gelichteten Zuschauerreihen sehen. Dabei ist „Life and Times – Episode 1“ tatsächlich nur der erste Abend einer über 16 Stunden geplanten Performance. Das Zeitkonzept sollte doch noch mal überdacht werden.