: Der Bekehrte
AUS GUNTERSBLUM HEIDE PLATEN
Wenn er auf die Böschung des Hohlwegs neben seinem Haus klettert, kann er sie sehen, die vier Kühltürme der Blöcke A und B des Atomkraftwerks Biblis. Luftlinie 15 Kilometer. Aber er muss sie ja nicht sehen, die Böschung verdeckt sie ja. Für ihren Erhalt hat der Winzer Burkhard Schnell, 71, einst gekämpft. Die rheinhessische Gemeinde Guntersblum wollte den alten Pfad mit seinen Büschen und Bäumen, der zum Weingut führt, einebnen.
Das Weingut hat Schnell 1964 übernommen, er hat da oben gestanden und auf eine „ausgeräumte Landschaft“ geblickt. Zugunsten industrieller Weinbaumethoden waren Berge eingeebnet, Täler zugeschüttet, Hecken gerodet worden. Die Böden der Weinberge erodierten, sie waren kahl geworden – Unkrautvernichtungsmittel. „Das war ein stummer Frühling“, beschreibt Schnell die Lage vor 42 Jahren. Er wehrte sich gegen die Flurbereinigung und gewann. Die Bagger mussten abziehen, der Hohlweg blieb. Und ein neuer Kampf begann. Die Nachbarn waren sauer auf ihn, spotteten. „Dornröschen“ nannten sie ihn damals wegen seines Einsatzes für das Dornengestrüpp.
Burkhard Schnell ist ein schlanker Mann mit sonnengebräuntem Gesicht, grünbraunen Augen unter grauen Brauen. Er nimmt nichts leicht, leidet darunter, wenn man ihn belächelt.
Dennoch, Schnells Widerstand wuchs, langsam und folgerichtig. Schon als Kind hatte er die Natur beobachtet: Vögel, Schmetterlinge, Pflanzen. Als Erwachsener kam er immer mehr ins Grübeln. Zum Beispiel die Sache mit dem Wasser. Beim Bau seines Hauses hatte er im Keller eine Quelle angeschnitten: „Die haben wir mühevoll gefasst und wollten sie nutzen“, erzählt er. Als er das Wasser untersuchte, stellte er einen unglaublich hohen Nitratgehalt fest, 120 Milligramm pro Liter. 40 Milliliter wären normal. „Das war so enttäuschend.“ Schnell und seine Frau Dorothea lernten die ersten Ökobauern und Atomkraftgegner kennen, beteiligten sich Anfang der Siebzigerjahre an einer Sammelklage gegen das Atomkraftwerk, gingen zu Demonstrationen: „Wir waren damals in einer deprimierenden Minderheit. Atomkraftgegner wurden hier als Staatsfeinde angesehen.“ Das sei ihm, „schon etwas unheimlich“ gewesen: „Wir wurden bei Demos mit Ferngläsern beobachtet und gefilmt.“
Aber Veränderung lag in der Luft. Schon 1975 begannen die Schnells, ihrer Zeit voraus, den Betrieb umzustellen. Literatur über ökologischen Landbau gab es kaum: „Ein Buch über Gärtnern und Ackern ohne Gift wurde zu unserer Bibel.“ Zuerst einmal sollte der ausgelaugte Boden wieder lebendig werden. Schnells säten stickstoffhaltige Düngepflanzen zwischen die Rebstöcke: Klee, Luzerne. Klar, dass mancher Gehversuch in die Irre führte. Einmal, erinnert sich Schnell, habe er der Saatmischung reichlich Sonnenblumensamen beigemischt. Die gediehen so prächtig, dass sie dicht an dicht und hoch standen und den Weinstöcken nicht nur das Wasser nahmen, sondern am Ende auch die Sonne. Alle im Ort haben gelacht. Er auch: „Die Blumen hab ich dann gerade stehen lassen und erst nach der Blüte untergepflügt! Jetzt erst recht!“
Freunde bezeichneten Schnells erste Ökoernte als „eigenwillig“. Auch das hatte seinen Grund. Der viele Schafsmist, denn sie mühsam zur Bodenverbesserung eingearbeitet hatten, gab dem Rebensaft, so Schnell, „einen Schafsböckser, na ja, so e Geschmäckle halt“. Gleichgesinnte hielten dennoch zu ihm: „Wir hatten keine Kunden, wir hatten Sympathisanten.“ 1985 gründete er zusammen mit jungen Winzern den ersten Verband für ökologischen Weinbau mit dem eingetragenen Warenzeichen „Ecovin“, 200 Mitgliedsbetriebe hat der heute.
„Dr. Schnell“ begann zu expandieren, trotz des Glykolskandals, der Mitte der Achtzigerjahre viele konventionelle Betriebe in den Ruin trieb. Das Geheimnis war: Der deutsche Weingeschmack änderte sich. Dorothea Schnell erinnert sich: „Früher wurde zum Wein die Zuckerdose rumgereicht. Von dieser Klientel wollten wir weg.“ Sie gewannen „völlig neue Freunde“, treue Freunde.
Burkhard Schnell hat die Weinberge 1999 an seinen Sohn übergeben. Es ist die vierte Generation, der Betrieb produziert jährlich 45.000 Flaschen, 60 Prozent Weißen, 40 Rotwein. Guntersblum wurde erstmals 897 urkundlich erwähnt, die Kellerstraße oberhalb des Ortes entstand ab 1600. Dort lagerten die Einwohner ihre Vorräte hochwassersicher im Fels. Die Giebelhäuser mit den breiten Einfahrtstoren führen in die Tiefe, ideal für den Wein, kühl und trocken. Fast am Ende der Straße steht das alte Haus der Schnells, eher klein neben dem herausgeputzten Nachbargebäude, Frey’s Raritätenkabinett. Dahinter zuerst einmal ein kleiner Unterstand mit zwei stämmigen, braunen Pferden, dann das große Lager. Fässer, Paletten, Weinflaschen stapeln sich auf der Rampe des Flachbaus. Auf die neue Photovoltaikanlage auf dem Dach ist Burkhard Schnell stolz, geheizt wird zusätzlich mit Holzpellets: „Ich will einen Energiemix“, erklärt er. Er schaut rüber zum Nachbarn: „Des geht doch! Als wann’s des nit geb!“
Aber Pfälzer sind, sagt Schnell, eigentlich „gemütliche Weintrinker“. Da überwiegt doch der Humor. Er erzählt von den Anfängen des Familienbetriebs. Der Gießener Studiendirektor Johann Heinrich Schnell, Physik- und Mathematiklehrer, hatte 1898 in den Wein- und Obstvertrieb eingeheiratet und ihn zu dem Weingut ausgebaut, das noch immer seinen Namen trägt: „Dr. Schnell“. Er regierte, so sein Nachfahre, „nach Gutsherrenart“ . Enkel Burkhard fühlte sich eigentlich nicht zur Betriebsübernahme berufen. Doch nachdem sein Vater gestorben war, arbeitete eine Tante mehr schlecht als recht kommissarisch weiter: „Die ritt nur aus und fand es schick, einen Weinberg zu haben.“ Burkhard Schnell musste sich entscheiden: „Keiner wollte, ich fühlte mich verpflichtet.“ Eigentlich hatte er eine Laufbahn als Chemiker einschlagen wollen. Statt dessen übernahm er einen zersplitterten Besitz, er wohnte provisorisch, zahlte Erben aus, kaufte Land zurück. Gelernt hatte er das alles nicht, aber einen „begnadeten Küfer, ein Naturtalent“.
Die Weinregion Rheinhessen, mit 25.000 Hektar Rebfläche größtes Anbaugebiet in Deutschland mit den Weinorten Alzey, Nierstein und Oppenheim, war nach dem Zweiten Weltkrieg eine bitterarme Gegend, in der die Winzer „ärmste Teufel waren, die werkelten wie vor dem Krieg“. Eher nebenbei betrieben manche noch den Weinbau, ihr Geld mussten sie sich in den Industriegebieten um Mannheim und Frankfurt verdienen. Dorothea Schnell sagt: „Die Verhältnisse waren unglaublich bescheiden.“ Vor allem die „Kellerfrauen“, die die Flaschen reinigten, etikettierten und verpackten, bekamen nur Hungerlöhne. „Alle waren ungelernt und machten eben alles so, wie man es früher gemacht hatte.“
Auch das Ehepaar Schnell setzte damals die Hoffnung auf den Fortschritt: „Wir glaubten an die unerschöpfliche Kernenergie, sauber und rückstandslos. Nicht so schmutzig wie die Kohlekaftwerke. Die dunklen Seiten haben wir erst später gesehen.“ Gegen den Bau des Atommeilers Biblis A hatten sie nichts einzuwenden. Auch sie arbeiteten da noch mit Gift. Aber dann fühlte sich der Winzer von den Spritzmitteln manchmal völlig vergiftet, er wurde krank: „Das Zeug war teuflisch.“ Der Wandel kam langsam, die Schnells wurden Pioniere, nachdem sie von Wissenschaftlern erste kritische Worte gegen die Atomenergie gehört und zudem die Flurbereinigung als „Vernichtung eines Stücks Natur, das uns ans Herz gewachsen war“, erlebt hatten: „Die Landschaftsgestaltung machten Ingenieure.“ Dazu kam die Planung für Biblis B.
Dass Biblis B 1976 ans Netz gegangen ist, empfindet Schnell noch heute als Niederlage: „Wir waren im Grunde völlig machtlos. Das verbittert auch.“ Anfang April 2006 ist das Zwischenlager auf dem Gelände des Atomkraftwerks Biblis fertig gestellt worden, in diesem Monat sollen die ersten Castoren in die neue Halle gebracht werden. Dass CDU-Politiker die Verlängerung der Laufzeit von Biblis A über 2008 hinaus, gar den Bau neuer AKWs erwägen, sei „reine Ideologie“. Wenn es so weit kommt, wollen die Schnells wieder protestieren: „Natürlich sind wir dabei.“ Dann aber, ahnen sie, wird es anders sein als früher: „Es gibt so wenig Jugend.“ Und der Widerstand sei pragmatischer geworden: „Es geht nicht anders als formal. Da müssen wir zusammenlegen und hoch spezialisierte Anwälte gegen hoch spezialisierte Anwälte antreten lassen.“
Burkhard Schnell tröstet sich manchmal damit, dass sein Engagement nicht umsonst war, dass der Steinschmätzer hier nicht ausgestorben ist, dass Feldsperlinge nisten und hin und wieder ein Wiedehopf auf Durchzug gesichtet wird. Der Trend der Menschen hin zur Natur allerdings macht ihm auch zu schaffen. Städter zum Beispiel seien „ganz wild“ auf die „Legesteine“, die Felsmäuerchen in den Weingärten, in denen Reptilien und Vögel Schutz suchen. Sie stehlen sie vom Acker weg: „Und dann werden sie in den Vorgärten festzementiert!“