Berliner Platten
: Das alles kann Jazz sein

Lyambiko: „Love. And Then“ (Sony Classical/Sony BMG)

Jazz, das ist doch ein arg dehnbarer Terminus geworden. Unter diesem längst beliebigen Sammelbegriff subsummiert man die frei flottierenden Improvisationen des North Quartets ebenso wie die elegant angerührte Cocktailpartybeschallung von Y Move oder den gepflegt akademischen Besserwisserjazz von Lyambiko. Eindeutig am freigeistigen Ende dieses Spektrums agiert nun schon seit Jahrzehnten Peter Brötzmann mit seinem Saxofon. Mit seinem polnischen Instrumentenkollegen Mikolaj Trzaska, Bassist Friis Nielsen und Schlagzeuger Peeter Uuskyla hat er 2005 im Danziger Club Zak „Malamute“ live aufgenommen. Zu dieser Gelegenheit, vermeldet selbst die Plattenfirma, wurde „die Grenze zwischen Improvisation und absoluter musikalischer Freiheit auf das Äußerste strapaziert“. Man könnte auch sagen: Die Hölle bricht los. Die beiden Saxofone bekriegen sich ohne Regeln, tänzeln, schlagen, treten: Ultimate Fighting ohne Käfig, aber dafür mit Noten. Der Sieger heißt Brötzmann, weil er sich mit seinem radikalen Free-Jazz-Ansatz rücksichtslos durchsetzt gegen den sonst auch schon mal Blues und Rock integrierenden Coleman-Anhänger Trzaska. Nach dem Kampf allerdings, seien wir ehrlich, bleibt der eher traditionell gestimmte Hörer im Kopf verwirrt und an den Ohren lädiert zurück. Im Gegensatz zum alten Kämpen Brötzmann fordern Y Move ihr Publikum nicht übermäßig. Sie vertonen – wie einige hunderttausend Jazz-Quartette vor ihnen – auf ihrem Debüt die Stimmung in einem verrauchten Club zur blauen Stunde und durchschreiten dabei vornehmlich jene Täler, die die Melancholie so zu bieten hat. Das geschieht auf allerhöchstem technischem Niveau, denn man hat nicht nur studiert, sondern ist zum Teil sogar selbst Dozent – so Pianist Andreas Schmidt an der Hanns Eisler Hochschule. So altbacken das entstehende Format, so einzigartig aber dann doch die Stimme von Yelena K. Die aus Serbien stammende Sängerin lässt ihre Stimmbänder in den eher tieferen Bereichen der Wahrnehmung herumspazieren und grummelt so sogar John Lennons „Imagine“ zurück zur Erträglichkeit. Lyambiko wiederum betreibt au ihrem zweiten Album „Love. And Then“ die stimmliche Entäußerung auf technisch so avanciertem Niveau, dass ihr bisweilen die Seele verloren zu gehen droht. Nicht allzu hilfreich ist da ihre ebenso geschulte Band mit prominenten Namen wie Torsten Zwingenberger, die meisterhaft sämtliche Kniffe beherrscht, wie ein Quartett aus der goldenen Ära des Jazz zu klingen hat, die Coverversionen der mittlerweile recht ausgelutschten Klassiker „Blue Moon“ und „Over The Rainbow“ inklusive. Allerdings kann alle Perfektion des Vortrags kaum darüber hinwegtäuschen, dass jede Scat-Einlage der Vokalistin, jedes noch so nebensächlich dahingeklimperte Kurzsolo, jeder der nicht eben seltenen Schlagzeugbeseneinsätze klingt wie eine Geschichtslektion – und die sind ja bisweilen arg trocken. Aber womöglich ist das auch der letzte gemeinsame Nenner des dehnbaren Begriffs Jazz: das Bewusstsein, sich eine Historie zu teilen.

Y Move: „Y Move“ (Minor Music/In-Akustik)

THOMAS WINKLER

North Quartet: „Malamute“ (Kilogramm Records/A-Musik)