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Archiv-Artikel

Chef der Wichtelbande

BASEBALL Dank David Ortiz gewinnen die Boston Red Sox die World Series. Der Mann aus der Dominikanischen Republik hat längst Kultstatus erlangt in der Stadt an der Ostküste

Nur einmal musste Papa Ortiz ungemütlich werden

VON THOMAS WINKLER

David Ortiz hatte sich einen Fahrradhelm aufgesetzt und sicherheitshalber schon mal die Skibrille angelegt. Er wollte vorbereitet sein auf eine Feier, die besonders ausgelassen zu werden drohte, vorbereitet auf den herumspritzenden Siegessekt, auf Kollegen, die ihm begeistert in den Nacken springen würden. David Ortiz wusste, dass er mit seinem Fahrradhelm und seiner Skibrille lächerlich aussah, aber er wollte gerüstet sein für das Chaos, das unweigerlich ausbrechen würde, wenn die Boston Red Sox die World Series gewinnen würden. Und als es schließlich so weit war, als die Spieler sich zu einem großen jubelnden Haufen getürmt hatten, als das letzte Spiel gegen die St. Louis Cardinals 6:1 gewonnen war, da wurde David Ortiz gefragt, was dieser dritte Titel nach denen von 2004 und 2007 bedeuten würde. „Das bedeutet“, antwortete Ortiz, „dass ich alt werde.“

Geboren wurde Ortiz vor 37 Jahren in der Dominikanischen Republik, aber in Boston haben sie ihn längst adoptiert. „Big Papi“ nennen sie ihn liebevoll, weil er 1,93 Meter groß ist, 113 Kilo wiegt und mit seinem Bart die Gemütlichkeit eines Kuschelbären ausstrahlt.

Der Bartwuchs wurde im Trainingslager vor der Saison beschlossen. Die Red Sox wollten damit nach zwei vollkommen verkorksten Spielzeiten mit peinlichen Aussetzern und internen Streitereien einen Neuanfang markieren. Tatsächlich verwandelte sich das neuformierte Team mit jeder versäumten Rasur nicht nur äußerlich in eine skurrile Horde aus Waldschraten, sondern entwickelte auch den Zusammenhalt und Mannschaftsgeist der sieben Zwerge.

Unbestrittener Chef der Wichtelbande wurde Big Papi. Nach dem Bombenanschlag auf den Marathon in Boston griff er sich das Mikrofon im Stadion und holte Boston aus der Schockstarre: „Das ist unsere verfickte Stadt!“ Einmal allerdings musste Papa ungemütlich werden: Im dritten Spiel der Finalserie, die Cardinals führten und bei den Red Sox lief nicht viel zusammen, versammelte Ortiz seine Kollegen am Rande des Spielfelds und teilte ihnen mit, sie sollten sich gefälligst mal zusammenreißen. „Wir waren wie 24 Kindergartenkinder, die von ihrem Erzieher zusammengeschissen werden“, erinnerte sich Johnny Gomes an die Spontanversammlung. Danach ging Gomes raus aufs Feld und schlug den spielentscheidenden Homerun, die Red Sox verloren kein Spiel mehr und gewannen die Serie mit 4:2 Siegen.

Ortiz wurde zum MVP, zum wertvollsten Spieler des Finales, gewählt. Eine folgerichtige Entscheidung, denn mit seiner kleinen Ansprache hatte er nicht nur für den psychologischen Wendepunkt gesorgt, auch sportlich lief es für das Riesenbaby überragend. 25 Mal schritt er gemessenen Schrittes zum Schlag, 19 Mal erreichte er zumindest die erste Base. Eine absurde Zahl, wenn man bedenkt, dass die besten Baseball-Profis gewöhnlich in einem Drittel der Fälle das Duell gegen den Pitcher für sich entscheiden.

Ortiz ist „einzigartig“, findet sein eigener Trainer, John Farrell. „Unglaublich“ sei er, meint Yadier Molina, der Catcher der Cardinals. „Er ist eine Legende“, sagt Ben Cherington, der Manager der Red Sox. Ein solche Angst flößte Ortiz den Cardinals im Laufe der Serie ein, dass sie ihn im letzten Spiel lieber gleich freiwillig auf die erste Base schickten, anstatt zu riskieren, dass er mit seinem Schläger größeres Unheil anrichtete.

Big Papi ist der Einzige, der schon dabei war, als die Red Sox 2004 die World Series gewannen. Die Mannschaft von damals ist heilig gesprochen in Boston, weil sie eine 86 Jahre dauernde Durststrecke beendet hatte, die sich die Stadt nur durch einen Fluch erklären konnte, der auf den Red Sox lastete, seit sie 1920 einen gewissen Babe Ruth an die New York Yankees verscherbelt hatten. Seit er mitgeholfen hat, diesen „Curse of the Bambino“ zu brechen, hat sich David Ortiz zur Ikone entwickelt, der auch gerne vergeben wird, dass sie 2003 angeblich positiv getestet worden sein soll. Damals versprach Ortiz, den Vorwürfen „auf den Grund zu gehen“. Seitdem hat man von ihm nie wieder ein Wort zum Thema Doping gehört. Zehn Jahre später hat David Ortiz sichergestellt, dass er in Boston niemals wieder zu diesem Thema befragt werden wird.