: Der Topos vom „polnischen KZ“
Schriften zu Zeitschriften: Neue Blicke von Historikern auf die deutschen Vertriebenen und die Killing Fields Osteuropas
Mit welchen Augen blickt man heutzutage auf das nach Ansicht des Regensburger Historikers Manfred Kittel „größte Vertreibungsgeschehen der Weltgeschichte“? Im Opferdiskurs der Bundesrepublik seien die 14 Millionen aus Osteuropa vertriebenen Deutschen, wie Kittel bedauert, „mehr und mehr zu unerwünschten Opfern“ geworden. In der angesehenen Münchner Historikerzeitschrift Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (2/2006) bricht er nun eine Lanze „für das mühsame wissenschaftliche Unternehmen, dem Gegenstand der Vertreibung mehr Aufmerksamkeit zu widmen“. Denn nicht zuletzt in der Forschung habe man das ganze Thema lange Zeit für „nationalistisch affiziert“ gehalten.
Aufhänger für Kittels erinnerungspolitische Initiative ist seine Studie über die von den Vertriebenenverbänden Mitte der Sechzigerjahre vergeblich in die Diskussion gebrachte Gründung einer Zentralstelle zur Verfolgung von Vertreibungsverbrechen. In der damaligen Öffentlichkeit sei dieser Vorschlag weitgehend auf taube Ohren gestoßen. Kittel zufolge konnte sich so „einer der großen Skandale in der Geschichte der ethnischen Säuberungen – die so gut wie ausbleibende Ahndung hunderttausender Tötungsverbrechen sowie einer großen Zahl weiterer Kapitalverbrechen an deutschen Vertriebenen – ungehindert fortsetzen, ohne dass dies einen lauten Aufschrei moralischer Empörung in der Gesellschaft der Bundesrepublik ausgelöst hätte“.
Wie auch Kittel einräumt, sei allerdings schon damals „die moralische Glaubwürdigkeit der vertriebenenpolitischen Forderung nach einer Zentralstelle […] durch einige schrille Töne gegen die weitere Verfolgung von NS-Verbrechen in Zweifel gezogen“ worden. Heutzutage mag es daher tatsächlich ungerecht erscheinen, den wirklichen Opfern allein mit Hinweis auf das notorische Wirken der späteren bundesdeutschen Flüchtlingslobby einen, wie Kittel sagt, „angemessenen Platz in unserem kollektiven Gedächtnis“ zu versagen. Doch muss man dafür unbedingt einen neuen Opferdiskurs eröffnen?
Ganz beiläufig im Erzählen taucht Kittel auch manchmal selbst in die schrille Diktion seiner Quellen ein. Ohne distanzierende Anführung kolportiert er etwa die damalige Forderung der Landsmannschaft Oberschlesien gegenüber der polnischen Regierung, „zwei namentlich genannte Täter wegen vielfachen Mordes und Folterungen im ehemaligen Konzentrationslager Lamsdorf unter Anklage zu stellen“. Doch wer spricht hier eigentlich von einem polnischen KZ? Ist es noch der Historiker oder schon die Landsmannschaft Oberschlesien?
Von „einem geteilten Bewusstsein von Vergangenheit“ bei Deutschen, Ukrainern, Polen und Juden spricht der Stanforder Osteuropahistoriker Norman Naimark in der neuen Ausgabe der europäischen Revue Transit. Wie sich das menschliche Gedächtnis nicht nur nach den gegenwärtigen Reizen des jeweiligen Augenblicks immerzu verändere, würden sich auch sprachliche und kulturelle Gemeinschaften ihr jeweils eigenes kulturelles Gedächtnis erschaffen.
In einer Tour de force über die historischen Killing Fields Osteuropas erinnert Naimark daran, wie Polen, Balten, Russen und Ukrainer im Zweiten Weltkrieg auch untereinander gemordet und gebrandschatzt hätten: Die Ukrainische Aufstandsarmee UPA massakrierte über 50.000 Polen; polnische Milizen gingen ein kurzes Zweckbündnis mit den Deutschen ein und liefen in ukrainischen Dörfern Amok; in Jedwabne und anderenorts gab es Pogrome polnischer Nationalisten. Selbst wenn man hier bloß den „Generalplan Ost“ zur Eroberung von deutschem Lebensraum am Wirken sieht – sollte man die jeweiligen Täter deshalb nur als mordende Marionnetten begreifen?
Naimark hofft, dass das 2005 in Warschau von internationalen Forschern begründete „Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität“ zur Entwicklung eines „übergreifenden europäischen Narrativs“ beitragen kann. Dies verspreche beträchtlichen zukünftigen Nutzen, „nämlich gute Beziehungen untereinander“. Doch derweil scheint sich unter Historikern auch der Topos vom „polnischen KZ“ immer größerer Beliebtheit zu erfreuen. So kann man bei Naimark lesen, dass ukrainische Juden „in die polnischen Vernichtungslager deportiert“ worden seien. Sicherlich nur ein Lapsus. Doch sechzig Jahre nach Kriegsende scheint der Kampf im Dienste der guten historischen Sache immer mehr auch zum Kampf gegen die Winkelzüge der Sprache zu werden.
JAN-HENDRIK WULF
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte2/2006, 19,50 EuroTransit 30, 14 Euro