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Archiv-Artikel

ARNO FRANK über GESCHÖPFE Muss diese Wand getüncht werden?

Nein, diese Wand muss nicht getüncht werden. Aber warum hat der Türke um die Ecke seinen Schnauzbart abrasiert?

Taxifahrer kennen den Bezirk als „Neukölln“, Politiker nennen ihn einen „Problemkiez“, und Spiegel-Redakteure schreiben mit zitternden Händen gar von einem „Klein-Lagos“ in Berlin.

Das ist alles Unsinn. Ich lebe in Babylon. Der Zeitschriftenladen um die Ecke wird von einer Familie aus Sri Lanka unterhalten, das Gemüsegeschäft daneben von bosnischen Serben, gegenüber dem griechischen Restaurant liegt ein Bordell mit überwiegend lettischen Beschäftigten, der afghanische Kulturverein liegt nur einen Steinwurf entfernt von einer gewissen „Tschetschenienhilfe“, und neulich hat sogar ein Angolaner die Räume der geschlossenen Metzgerei bezogen, hat Plakate aufgehängt und Plastikflugzeuge ins Schaufenster gestellt und ein Reisebüro aufgemacht.

Weil man sich hier allein schon wegen der sprachlichen Differenzen mit gegenseitigem Respekt und freundlicher Zurückhaltung begegnet, sind kulturell bedingte Schwierigkeiten so gut wie ausgeschlossen.

So gut wie. Nicht ganz.

Unweit meiner Wohnung betreibt seit vier Jahren ein freundlich-zurückhaltender Türke einen kleinen Kiosk. Im Laden ist es enger als in meiner Küche und so zugestapelt mit Bierkästen, dass die Kunden nur einzeln an die Kasse treten können.

Im Winter, wenn die elektrischen Heizstrahler den Laden in ein tropisches Gewächshaus verwandeln, überlässt er das Geschäft bisweilen seiner ebenso freundlich-zurückhaltenden Frau. Dann zieht er sich auf ein Nickerchen zurück, wahrscheinlich in einen Verschlag unter der Theke, so genau ist das nicht zu lokalisieren; im Gegensatz zu seinem Schnarchen, das als rechtschaffenes Röcheln durch den Raum sägt. Im Sommer dagegen sitzt das Ehepaar gerne teetrinkend in der Sonne vor dem Laden und nickt vorbeikommenden Stammkunden zu, freundlich und zurückhaltend.

Bei einer dieser Gelegenheiten muss mir erstmals aufgefallen sein, dass etwas nicht stimmte mit meinem Türken. Aber was? Gut, er wirkte irgendwie … anders. Aber wie? Und warum? Ich rätselte fast eine Woche lang, bis meine Freundin, eine ausgezeichnete Beobachterin, mich mit der einfachen Erkenntnis überraschte: „Na, er hat sich den Schnauzbart abrasiert“, was meine innere Unruhe in offene Bestürzung kippen ließ.

Ein Türke, der sich den Schnauzbart abnimmt? Einfach so? Ausgeschlossen. Was also steckte dahinter? Wurde er gezwungen? Drückte er so seinen Protest aus? Gegen was? War er etwa ein politischer Dissident? Hatte ihn ein religiöser Wahn ergriffen oder, noch schlimmer, ein Säkularisierungsschub? Ob er womöglich nur eine Wette verloren hatte? Fragen über Fragen, aber fragen konnte – und wollte – ich ihn nicht, weil er kaum Deutsch beherrscht und ich kein Türkisch spreche, von den möglichen kulturellen Missverständnissen ganz zu schweigen, also schwieg ich.

Bis mich mein Freund Manuel besuchte, der von Neukölln begeistert ist. Vor Jahren hatte er mal Türkisch studiert und alles wieder vergessen – bis auf die türkische Version des deutschen Zungenbrechers „Fischers Fritze fischt frische Fische“, die er noch immer mühelos runterleiern und sogar aufschreiben konnte: „Bu duvari badanalamali mi? Badanalamamali mi!“

Das „i“, erklärte er mir, müsse ich ohne i-Pünktchen schreiben und wie ein „e“ aussprechen. Übersetzt bedeutet es: „Muss diese Wand getüncht werden? Nein, diese Wand muss nicht getüncht werden!“

Keine fünf Minuten später waren wir unten im Kiosk. Mit skeptischem Blick auf die Wand fragte ich betont beiläufig: „Bu duvari badanalamali mi?“, und Manuel erwiderte kopfschüttelnd: „Badanalamamali mi.“

Wir hatten das für einen Spitzenwitz gehalten, doch mein schnauzbartloser Türke blieb freundlich-zurückhaltend wie immer: „Das Türkisch“, stellte er fest, überraschend wenig beeindruckt: „Isch Kurde. Sonst noch was?“ Tja, haha, äh, nun ja … der Bart? Da hellte sich seine Miene wieder auf: „Sieht gut aus, oder? Besser, irgendwie jünger! Oder?“

Ich pflichtete ihm bei. Keine Ahnung, in welcher Sprache.

Fotohinweis: ARNO FRANK GESCHÖPFE Verständnisfragen? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN