: Wen Jiabao: Amokläufe zeigen soziale Spannungen
CHINA Amokläufe in Kindergärten zerstören das offizielle Bild der „harmonischen Gesellschaft“
VON SVEN HANSEN
BERLIN taz | Ministerpräsident Wen Jiabao hat „soziale Spannungen“ für die Serie tödlicher Amokläufe in Kindergärten und Grundschulen verantwortlich gemacht, die jüngst China aufgeschreckt haben. Wens Worte gegenüber dem Peking-freundlichen Hongkonger Privatsender Phoenix TV vom Donnerstag waren die ersten Äußerungen zu dem Problem aus der höchsten Führungsriege. Wen drückte den Opfern und Angehörigen sein Bedauern aus und erklärte dann: „Außer Sofortmaßnahmen zur Stärkung der Sicherheit an diesen Einrichtungen müssen wir auch tiefer nach den Wurzeln der Probleme schauen. Diese beinhalten sicher ein gewisses Maß an sozialen Spannungen.“
Zuletzt war Mittwochmorgen ein mit einem Messer bewaffneter Mann in einen Kindergarten in einem Dorf der nordchinesischen Provinz Shaanxi eingedrungen und hatte sieben Kinder, die Leiterin und deren Mutter zu Tode gehackt. Weitere elf Kinder wurden verletzt. Danach nahm sich der 48-Jährige, der sich später als Vermieter des Gebäudes herausstellte, das Leben. Laut Zeugen soll er zuvor mit der Kindergartenleiterin über die Miete gestritten haben.
Es war bereits der fünfte Amoklauf in einem Kindergarten oder einer Grundschule in China in den letzten acht Wochen. Bisher starben 17 Menschen, Dutzende wurden verletzt. Die Behörden ordneten landesweit den verstärkten Schutz und bessere Überwachung der Einrichtungen an. Teilweise stehen jetzt mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten davor. Alle Amokläufer waren Männer mittleren Alters.
Die Amokläufe werden als Zeichen für den psychologischen Stress gewertet, den der rapide gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Wandel auf die Bevölkerung ausübt. Auch könnten sie signalisieren, dass es zu wenig Behandlungsmöglichkeiten für psychische Probleme gibt. Schärfere Sicherheitsvorkehrungen lösten das Grundproblem in der gewandelten Gesellschaft nicht, sagte der Kriminalpsychologe Ma Ai von der Universität für Politikwissenschaft und Recht in Peking der Nachrichtenagentur afp. „Wir haben uns auf die wirtschaftliche Entwicklung konzentriert, jedoch die Entwicklung und Verbesserung der Psyche vernachlässigt.“ Die Fälle seien eine Warnung.
Nach einer Untersuchung von 2009 werden in China nur geschätzte fünf Prozent der Menschen mit psychischen Problemen behandelt. Anders als in den USA, wo Schusswaffen leicht zugänglich sind und bei Schulmassakern benutzt werden, hat China strikte Waffengesetze. Deshalb greifen die Täter meist zu Hackmessern, die zur Grundausstattung chinesischer Küchen gehören.