: Selbstbetrachtung statt Pflichtseminare
STUDIUM Das „Studium Individuale“ an der Universität Lüneburg bietet jenen Studierenden eine Nische, die mit den klassischen Bachelor-Studiengängen nichts anzufangen wissen
Angelika Kowal, Studentin des Studium Inidividuale
VON JOACHIM GÖRES
Das Studium wird immer verschulter, zunehmend müssen die Studierenden Pflichtveranstaltungen besuchen. Die Leuphana Universität Lüneburg geht den entgegengesetzten Weg: Seit einem Jahr bietet sie den Bachelor „Studium Individuale“ an. Studierende können hier nach ihren Interessen ihren Stundenplan aus dem kompletten Uni-Angebot zusammenstellen.
„Am Montag hatte ich Spanisch, Nachhaltigkeitsökonomie und -politik sowie Zivilrecht. Dienstags besuche ich Seminare in Geomorphologie, über den Umgang mit der Wirtschaftskrise in Buenos Aires und in Umweltrecht und Planung“, sagt Marie Josefine Hintz. Sie hat gerade mit dem dritten Semester im Studium Individuale begonnen. Dabei wählt sie im sogenannten Major (Hauptfach) mindestens zwei Schwerpunktbereiche – Hintz hat sich für Kulturwissenschaften und Umweltwissenschaften entschieden. Zur Wahl stehen auch alle anderen Leuphana-Schwerpunktfächer wie Digital Media, Ingenieurwissenschaften, Wirtschaftspsychologie und Betriebswirtschaftslehre, die beliebig miteinander kombiniert werden können. Hinzu kommt ein Minor (Nebenfach), bei dem die Studierenden sich einen von 16 Schwerpunkten auswählen. Hintz erwirbt hier Grundlagen in Rechtswissenschaften. Ihr Hauptthema: die Auswirkung des Klimawandels auf schnell wachsende Städte. „Ich will noch einen Master machen und mich dabei wahrscheinlich auf nachhaltige Stadtplanung konzentrieren“, sagt sie. Im Studium Individuale lerne sie, selbstständig und interdisziplinär zu arbeiten. „Das ist die ideale Vorbereitung für später.“
„Ihr könnt frei wählen, aber Ihr könnt nicht wählen, was Ihr wollt“: Darauf legt Camillo von Müller Wert. Er war bis vor kurzem Koordinator des Studiums Individuale. Damit meint er: Alle Studierenden müssen in jedem Semester gegenüber Lehrenden und Mitstudierenden die Wahl ihrer Module begründen. Dabei gehe es auch darum, eine realistische Selbstwahrnehmung zu fördern und zu erkennen, welche Kompetenzen man habe und welche noch nötig seien. „Es könnte auch Studierende geben, die im Studium Individuale die Chance sehen, alles das abzuwählen, was ihnen nicht gefällt“, sagt er. „Unsere Aufgabe ist es daher, ihnen Mut zu machen, sich wichtigen Themen wie zum Beispiel Statistik zu stellen, in denen sie sich unsicher fühlen und die sie für weitere Qualifikationsschritte benötigen.“
Hintz ergänzt aus eigener Erfahrung: „In Jura war ich kurz davor aufzugeben, denn diese Fachsprache ist eine große Hürde. Ich habe mich durchgebissen, weil Rechtskenntnisse für meinen weiteren Weg förderlich sind.“ Ein Wechsel der Schwerpunkte ist im Laufe des Studiums durchaus möglich, allerdings müssen Studierende für einen Master-Studium genügend Creditpoints aus ihrem Fachgebiet erwerben. So muss Hintz während ihres dreijährigen Bachelor-Studiums 180 Creditpoints erlangen.
„Wir lernen hier, unsere Entscheidungen von Anfang an zu reflektieren“, sagt Hintz’ Kommilitonin Angelika Kowal. „Das ist ein Vorteil gegenüber den Studenten, die in ihre Pflichtvorlesungen reingehen ohne zu überlegen, warum. Studierende anderer Fächer schwänzen viel häufiger ihre Veranstaltungen.“ Die gelernte Erzieherin will nach dem Bachelor als Pressesprecherin arbeiten – dass ihr Abschluss bei potenziellen Arbeitgebern unbekannt sein könnte, schreckt sie nicht: „Ich wäre in einem normalen Studium untergegangen und profitiere stark von der Betreuung im Studium Individuale.“ Annika Weinert, wissenschaftlichen Betreuerin an der Leuphana, betont den intensiven Austausch zwischen den Studierenden. Der wird durch wöchentliche Treffen im einzigen Pflichtmodul gefördert, in dem es in diesem Semester um Forschungsmethoden geht. „Einige Studierende haben ein klares Ziel vor Augen, für das sie ein klassischer Bachelor nicht unbedingt qualifizieren würde. Andere haben anfangs noch keine klaren Berufsvorstellungen, sind aber äußerst breit interessiert.“ Die Motivation und das Engagement seien sehr groß, die meisten belegten mehr Veranstaltungen, als sie müssen.
Das besondere Studienangebot hat sich inzwischen herumgesprochen: Auf die 35 Plätze kamen in diesem Wintersemester 124 BewerberInnen. Überfordert ein individuell geplantes Studium nicht viele junge Menschen? „Ein verbindlich vorgeschriebenes Studienprogramm kann vielen Studierenden Sicherheit geben“, hält von Müller dem entgegen. Und Marie Hintz ergänzt: „Von uns sind noch alle Studienanfänger im dritten Semester dabei. Keiner kann sich mehr vorstellen, ein normales Studium zu absolvieren.“