: Bei Elefanten ist die Welt intakt
AUS REMSCHEID LUTZ DEBUS
Der Fernseher ist aus, der Computer ist aus. In einer Ecke des Zimmers lehnt eine Gitarre an der Wand. Darüber hängt ein Bild, Kaufhauskunst. Ansonsten ist der Raum leer. Jenny, Sabrina und Ramona lümmeln sich auf der Kunstledergarnitur, ihre Erzieherin hat ihnen das Wohnzimmer aufgeschlossen. Gerade gab es Mittag, Ravioli. Der Geruch hängt noch in der Luft. Die drei Mädchen – Jenny und Sabrina sind 14, Ramona 15 Jahre alt – leben im Rheinischen Jugendheim Steinberg in Remscheid, zusammen mit etwa 30 weiteren Jugendlichen. Die drei sind Heimkinder. Und Autorinnen des Kinderbuches „Der blaue Elefant.“
„Es hat schon Tradition, inzwischen produzieren wir jedes Jahr ein Kinderbuch.“ Ute Projahn, die Leiterin des Jugendheims Steinberg, präsentiert stolz das Büchlein der drei Mädchen. Mit Laserdrucker und Laminiergerät habe man die Geschichte des kleinen Elefantenjungen Balthasar, der seine Eltern verloren hat und nun bei einer Pflegefamilie in Kenia lebt, in aufwändiger Handarbeit vervielfältigt. Es gebe bereits eine französische Übersetzung, sagt Projahn. Und Handpuppen aus Stoff und Elefanten aus Holz. Und eine Maxi-CD mit dem Lied „Der blaue Elefant“. Produziert hat sie der Musiklehrer in Zusammenarbeit mit einem der im Heim untergebrachten Mädchen.
Zu Hause hat Ute Projahn eine umfangreiche Elefantensammlung. Keine echten natürlich, schmunzelt sie. Auf ihren Reisen nach Indien und Thailand habe sie schon auf Elefanten reiten können. In der afrikanischen Savanne, dem Ort der Handlung der Geschichte, war sie aber bislang noch nie. „Elefanten halten zusammen. In der Herde gibt es eine gut funktionierende Frauengemeinschaft. Das fasziniert mich“, erklärt Ute Projahn. Die Tiere sähen zwar nicht so aus, seien aber ganz zarte Wesen. Die Parallelen zu den ihr anvertrauten Jugendlichen sind evident.
Sabrina hat ihre Baseballkappe tief ins Gesicht geschoben. Nur die schmalen Lippen sind zu sehen. Sie zittern leicht. „Der Blödmann von Erzieher macht immer einen auf King of Currywurst.“ Weil Sabrina Streit mit einer Mitarbeiterin des Heims hatte, wurden ihr einige Vergünstigungen gestrichen: kein Besuch von Freundinnen und heute früher ins Bett.
Eigentlich kein guter Zeitpunkt, über ein Kinderbuch zu sprechen, oder? Nein, es sei alles O.k, alles wieder unter Kontrolle. „Aber wenn ich meinen Blackout kriege, dann sehen Sie ein kleines weißes Wollknäuel herumspringen, das alles kaputt schlägt.“ Sabrina hat früher im Verein Kickboxen gemacht. Nun hebt sie kurz den Kopf. Zwei stahlblaue Augen blitzen streng unter der Kappe hervor. „Ich streich dir alles!“, habe ihr der Erzieher gerade eben noch gesagt.
Balthasar, der kleine blaue Elefant aus dem Buch, trifft auf zwei Löwenkinder. Schnurz und Piepe heißen die beiden. Denn als der Löwenvater sah, dass seine Löwin Zwillinge bekommen hatte, war er entsetzt und rief: „Zwei sind zu viel. Die sind mir schnurzpiepe.“ Und dann hat er die beiden Löwenkinder in die Wüste geschickt.
Jenny schüttelt ihre langen blonden Locken. Nein, ihren Vater kennt sie nicht. Der habe sich bei ihr noch nicht vorgestellt. Ihre Mutter sei heroinsüchtig gewesen. Inzwischen rauche sie nur noch Haschisch. Aber Jenny sei schon vor über fünf Jahren ins Heim gekommen. Und seit letztem Sommer sei sie hier. „Man kann sich dran gewöhnen.“
Sabrina widerspricht: „Ich gewöhn‘ mich seit sechs Jahren hier nicht dran“, sagt die 14-Jährige. „Das Rumgekacke von den Erziehern. Räum auf! Mach Hausaufgaben!“ Aber zurück nach Hause will Sabrina auch nicht, selbst wenn sie dürfte. Bei der Mutter stinken die Wände. Alles sei voller Schimmel. Alle Farben, weiß, grün, grau, schwarz.
Auch ihre Mutter habe Heroin genommen. Der Vater war Bundeswehrsoldat bei der Marine. Als Sabrina zwei Jahre alt war, ist er bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ihre Schwester hat dabei einen Finger verloren. Bis vor ein paar Monaten hing ein Foto vom Vater über Sabrinas Bett. Ein anderes Mädchen hat es einfach genommen und ins Klo geworfen. Sabrina hatte daraufhin einen ihrer „Blackouts“.
Durch die Arbeit an dem Kinderbuch werde den Mädchen vermittelt, dass sie künstlerische Fähigkeiten haben, erklärt Ute Projahn das Projekt. 1980 hat sie die Leitung des Hauses übernommen. Zuvor war sie Erzieherin, Lehrerin, Sozialpädagogin. Als sie ihren Doktor in Psychologie machte, musste sie ein weiteres naturwissenschaftliches Fach belegen. Sie wählte Zoologie. Manches Verhalten im Tierreich könne sie auch bei den Herkunftsfamilien ihrer Mädchen beobachten. Tatsächlich können männliche Löwen kleine Löwenkinder verjagen oder, wenn diese noch Babys sind, sogar fressen. Und Elefanten wiederum kennen sehr wohl den sozialen Status des Pflegekindes, des Adoptivkindes. Bereits vor vielen Jahren, als Lehrerin für Kunst, gestaltete Ute Projahn mit ihren SchülerInnen Bilderbücher. Und nun bildet sie die Dramen der Jugendlichen in Tiergeschichten ab. Der grobe Handlungsstrang also kommt von der Heimleitung.
Der kleine blaue Elefant tröstet Schnurz und Piepe, nimmt sie mit zu seiner Herde. Beide Löwen sind glücklich, ein neues Zuhause gefunden zu haben. Sie wollen sogar Vegetarier werden. Jenny, Sabrina und Ramona waren mit der vorgegebenen Geschichte nicht zufrieden. Jenny strahlt übers ganze Gesicht. „Das sollte doch ein Happy-Buch werden.“ Die Passagen, in denen der Löwenpapa zu brutal, die Löwenmama zu ohnmächtig dargestellt waren, wurden umgeschrieben. Aber auch an der Gestaltung der Grafiken waren die Mädchen beteiligt. Sabrina malte die Affenbrotbäume, Jenny die Löwen, Ramona die Elefanten. Dabei half ihnen eine pensionierte Lehrerin. Als diese bei einem der ersten Termine alte Tennissocken auspackte, um den jungen Künstlerinnen die Tupftechnik zu zeigen, staunten diese nicht schlecht. Inzwischen sind die Mädchen aber Anderes gewohnt. Mit einer Erzieherin drehen die Drei einen echten Videoclip mit selbst getextetem Rap. Ob das für 14-Jährige nicht passender sei als die Gestaltung eines Kinderbuches? Da meint Sabrina. „Wir sehen nur so hart aus. In uns drin sind wir noch Kinder.“
Später, draußen im Garten, erzählt sie dann noch, wie sie nach zwei Flaschen Doppelkorn im Krankenhaus aufgewacht sei. Mit ausgepumptem Magen und Venentropf. Alkoholvergiftung. „Zumindest haben mich an dem Tag die Bullen nicht in die Schule bringen müssen.“