Eine gut getarnte Bücherei

Voll Porno, Alter: Im Wedding lockt Berlins einzige Jugendmedienetage Menschen zwischen 13 und 25 mit Hiphop, Mangas und Spielkonsolen. Ein Team engagierter Bibliothekarinnen kümmert sich um die zielgruppengerechte Medienerziehung – und sorgt für den behutsamen Erstkontakt mit Gedrucktem

„Viele Leser kommen aus Spandau oder Neukölln hierher“, sagt die Chefin stolzDie Bibliothekarinnen ziehen alle zwei Monate los und kaufen neue CDs

Von Nina Apin

„Komm ruhig rein, wir haben jetzt offen!“, ruft Katharina Glase dem Mädchen zu, das unschlüssig vor der Glastür der Jugendmedienetage stehen geblieben ist. Das Mädchen bewegt sich nicht. „Aha, MP3-Player“, stellt Glase fachmännisch fest. Sie reißt die Tür weit auf und brüllt aus Leibeskräften: „Ist offen!“ Das Mädchen nimmt die Stöpsel aus den Ohren, lächelt und verschwindet in der Bibliothek.

Katharina Glase lehnt sich zurück und wartet auf den Andrang. Das überpünktliche Mädchen war nur die Vorhut. Um Punkt zwölf Uhr öffnet sich die Verbindungstür zum angrenzenden Diesterweg-Gymnasium und Horden von Siebt- bis Zwölftklässlern stürmen in den Vorraum. Sie verteilen sich auf die Arbeitsplätze, um Hausaufgaben zu machen, Referate vorzubereiten, E-Mails zu checken oder Zeitschriften zu lesen. Schule und Bibliothek sind im selben Gebäude untergebracht, einem 70er-Jahre-Ungetüm mit knallorangefarbener Fassade.

Damals, in den Siebzigern, waren in Schulgebäude integrierte öffentliche Bibliotheken schwer in Mode. „Mediotheken“ nannte man sie damals. Auch heute ist die Kinder-und Jugendbibliothek Hugo Heimann in der Swinemünder Straße in Wedding nah dran am Zeitgeist: Die nach einem sozialdemokratischen Vorreiter der Arbeiterbildung benannte Einrichtung ist seit drei Jahren Berlins einzige „Jugendmedienetage“. Das Angebot ist speziell auf 13- bis 25-Jährige zugeschnitten. „Denen braucht man mit verstaubten Büchern nicht zu kommen“, sagt Katharina Glase. Die Mittvierzigerin mit der grauen Kurzhaarfrisur trägt eine Lederhose und ein knalloranges Polohemd mit dem Aufdruck „@hugo“, die offizielle Kluft der fünf Bibliotheksmitarbeiterinnen.

Das „@hugo“ erinnert eher an einen Jugendclub als an eine öffentliche Bücherei: Handys klingeln, es wird laut geschwatzt. In einer bunten Sofaecke sitzen Mädchen und blättern in Zeitschriften, Jungs in Hiphop-Klamotten spielen an den Playstation-Konsolen und begutachten den Inhalt des CD-Regals: aktuelle Charts, Bollywood-Filmmusik, Independent – und viel Hiphop.

„Voll Porno, Mann!“, ruft ein Junge begeistert und trägt eine CD zur Ausleihe. Die „Porno“-Scheibe ist von dem US-Rapper Kanye West, eine Neuerwerbung der Bibliothek. Katharina Glase erklärt dem jungen Mann, wie man den Musiker richtig ausspricht – mit langem „a“ – und legt ihm gleich noch ein früheres Album des Künstlers ans Herz, das ebenfalls im Haus vorhanden ist. „Das find ich fast noch besser als das neue“, sagt sie. Es klingt nicht anbiedernd, sondern glaubwürdig.

Katharina Glase ist studierte Bibliothekarin, doch sie kennt sich mit Popkultur mindestens so gut aus wie mit geschichtlichen Sachbüchern oder Heinrich Heine. Die 46-Jährige ist bei den Jugendlichen beliebt, weil sie mit ihnen fast wie eine Gleichaltrige über Fernsehserien wie „Buffy“ oder „King of Queens“ oder über die neuesten Konsolenspiele plaudern kann. Glase hat auch schon einmal in einer Erwachsenenbibliothek gearbeitet. Aber das war ihr zu langweilig: „Keine Herausforderung“.

Im @hugo gehört es zum Jobprofil, popkulturell auf dem Laufenden zu sein. Glase liest alle Musikzeitschriften und Feuilletonrezensionen, die ihr in die Finger kommen. Selbst ist die leidenschaftliche Radio-Eins-Hörerin „mehr so der Indie-Typ“, wie sie sagt. Aber die meisten Jugendlichen, die zu ihr kommen, interessieren sich vor allem für Hiphop. Also schaltet Glase beim Bügeln auch MTV und VIVA ein. Wenn sie die vielen großen Autos und nackten Frauenhintern in den Clips mal wieder aufregen, diskutiert sie mit ihrer Chefin, Karin Liebertz.

Auch die schaut mit ihren 49 Jahren regelmäßig MTV und kann auf Anhieb den Unterschied zwischen einem japanischen und einem koreanischen Manga-Comic erklären. Berührungsängste mit neuen Medien sind Liebertz fremd. „Eine X-Box ist so einfach zu bedienen wie ein Toaster“,sagt sie und lächelt. „Außerdem macht Spielen Spaß“.

Glase und Liebertz sind ein eingespieltes Team. Kennen gelernt haben sie sich in der Jugendbibliothek am Nauener Platz, wo sie Disko-Abende veranstalteten. Mit der Jugendmedienetage haben sie sich ihren Traum von einer jugendgerechten Bibliothek verwirklicht. Ihr Vorbild ist eine von Bertelsmann gesponserte Einrichtung in Dresden, wo es genauso viele Bücher wie „neue Medien“ gibt. „Als ich das gesehen habe, dachte ich: Das ist zielgruppenorientiertes Arbeiten!“, sagt Katharina Liebertz. Sie überzeugte das Kulturamt Mitte von der Notwendigkeit, PCs und Spielkonsolen anzuschaffen und neben der schulrelevanten Lektüre auch Fernsehserien, Jugendzeitschriften oder Animes anzubieten.

Das Konzept dahinter ist klassische Pädagogik – nur eben mit popkulturellen Mitteln. Wer sich in der Umgebung von Büchern wohl fühlt, fängt irgendwann auch mal an zu lesen, so das Kalkül. Direkt neben den Fernsehserien auf DVD steht die passende Buchserie. Wer sich da bedient, ist irgendwann reif für Lektüretipps der Bibliothekarinnen: Jugendbücher über Gewalt im Pausenhof, Magersucht oder Armut, Sciencefiction, Biografien. „Das Zauberwort heißt niedrigschwellig“, sagt Karin Liebertz, die sich mit Schaudern an den pädagogischen Übereifer ältlicher Bibliothekarinnen in ihrer Jugend erinnert. „Es hat keinen Sinn, jemandem mit Goethe zu kommen, der von zu Hause vielleicht nur die Bild-Zeitung kennt.“

Das behutsame Konzept der Bibliothekarinnen geht auf. Die getarnte Bibliothek ist ein beliebter Treffpunkt im Brunnenviertel, das als Weddinger Problemkiez gilt: Rund 22.000 Menschen leben in diesem Stadtteil, ein Viertel davon sind Migranten, jeder fünfte Bewohner lebt von Sozialhilfe. In die Bibliothek kommen sie alle: streng erzogene türkische Mädchen, Halbstarke, Hauptschüler, Gymnasiasten, junge Erwachsene.

Das Miteinander funktioniert ganz gut. Nur gelegentlich müssen die Bibliothekarinnen Streit schlichten oder ein Platzverbot aussprechen. Einmal mussten sie die Polizei rufen, als eine Gruppe Mädchen randalierte. Doch sogar die kamen wieder – als unauffällige Leserinnen. Die Bindung an die Bibliothek bleibt oft über den Abschluss der Schule oder den Wegzug aus dem Viertel bestehen. Auch viele Auswärtige aus anderen Bezirken nutzen die Bibliothek. „Viele Leser kommen extra aus Spandau oder Neukölln hierher“, sagt Bibliothekschefin Liebertz nicht ohne Stolz.

Das Kulturamt Mitte gewährt der viel gelobten Einrichtung einen vergleichsweise üppigen Etat von 21.000 Euro im Jahr. Davon bestreiten die engagierten Bibliothekarinnen Hausaufgabenhilfe, Manga- oder Hiphop-Workshops, Lesereihen und Bewerbungstrainings. Alle zwei Monate ziehen sie zusammen los und kaufen neue CDs. Im Gegensatz zu anderen Bibliotheken, die lange Vorlaufzeiten des Bibliothekengroßhandels in Kauf nehmen müssen, kaufen sie direkt im Plattenladen. Meist haben sie eine riesige Wunschliste ihrer Kunden im Gepäck.

Doch nicht immer können oder wollen sie diesen Wünschen entsprechen. Platten, die auf dem Index der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien stehen, kommen ihnen nicht ins Haus. Auch ein Blick aufs Cover weckt manchmal das Misstrauen der beiden Bibliothekarinnen, wie im Fall des Berliner Rappers Fler. Das Spiel mit rechtsextremen Symbolen verwehrte seinem Album „Neue Deutsche Welle“ den Platz im CD-Regal der Jugendmedienetage.

Bei aller Lockerheit achten die Weddinger Bibliothekarinnen genau darauf, was in ihren Räumen konsumiert wird. Eine Software vergleicht automatisch das Alter des Ausleihers mit der empfohlenen Altersfreigabe auf den CDs und DVDs. Auf den fünf Computern mit Internetzugang sorgt eine Filtersoftware dafür, dass keine Porno- oder Gewaltseiten aufgerufen werden können, zusätzlich haben die Frauen in den orangefarbenen Polohemden immer ein Auge darauf, was auf den Bildschirmen zu sehen ist. Die Kontrolle bei @hugo ist oft gründlicher und effizienter als in vielen Elternhäusern. „Die meisten Eltern haben von Spielen, Filmen und Internetseiten keine Ahnung“, sagt Karin Liebertz.

Langfristig soll das Angebot der Jugendmedienetage zur Hälfte aus neuen Medien bestehen. Doch momentan sind Bibliothekarinnen und Leser froh, dass die Bibliothek nach fast sieben Monaten Schließzeit überhaupt wieder offen ist: Im Juli vergangenen Jahres setzten Einbrecher die Bibliothek in Brand und zerstörten Medien und Mobiliar im Wert von 50.000 Euro. Karin Liebertz muss heute noch schlucken, wenn sie an den Anblick denkt: „Die neue Sitzecke, Computer, alles zerstört. Ich dachte, das war’s jetzt.“

Doch ein breites Bündnis von Unterstützern sorgte dafür, dass die Arbeit der engagierten Bibliothekarinnen weitergehen konnte. Die Wohnungsbaugesellschaft Degewo spendierte als größte Vermieterin im Stadtteil einen neuen Anstrich, Dussmann, der Westermann-Verlag und das Kulturamt leisteten weitere Unterstützung. Im März konnte der Betrieb wieder aufgenommen werden.

Die Bibliothekarinnen lassen sich jedenfalls so schnell nicht unterkriegen. „Leser waren das keine“, sagt Katharina Glase mit fester Stimme. „Nee“, pflichtet ihr Karin Liebertz bei. „Die wären ja schön blöd.“