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Archiv-Artikel

Im Rempeltunnel

Der weltberühmte Hundertwasser-Bahnhof Uelzen ist nichts für schwache Nerven

Im schmalen Tunnel verschwimmen alle Linien, Farben und Gesichter

Es gibt Städte, deren Namen dem Durchreisenden schon nahe legen, lieber einen Bogen um sie zu machen. Ob ihre Gründer mit der Namensgebung das Ziel verfolgten, dass die Bevölkerung über die Jahrhunderte hinweg unter sich bleibt, weiß man nicht. Uelzen ist so eine Stadt. Dennoch gibt es in dieser Stadt ein Bauwerk, über das viel, und nicht selten in schwelgenden Tönen gesprochen wird. Selbst in Zügen, die gar nicht nach Uelzen fahren, hört man bisweilen Sätze wie: „Also ich war jetzt mal auf diesem Hundertwasser-Bahnhof, der ist wunderschön!“

Wen wundert es da, dass diesem großen Bahnhof eine eigene Internetseite (hundertwasserbahnhof.de) gewidmet ist, in deren Forum viel gelobt und geschwärmt wird. Begeistert ist zum Beispiel ein Besucher aus dem Ruhrgebiet: „Hundertwasser! Ein echter Freak! Wirklich einmalig! Grüße aus dem Ruhrgebiet.“ Sogar aus der Ukraine gibt es liebe Grüße: „Hi, nice site! Visit my site: 59618.rapidforum.com, free gay porn movies.“

Ein Blick auf den Reiseverbindungsplan ruft ein erstes Schlucken hervor: Ankunft auf Gleis 302! Die Erwartung eines gigantischen Schienenmeers erweist sich aber als ebenso irrig wie die Angst vor einem kilometerlangen Marsch zum Gleis 103, auf dem der Anschlusszug abfahren soll. Die Gleisnummern sind vermutlich nur eine der zahlreichen Macken des Künstlers. „Wenn einer allein träumt, ist es nur ein Traum. Wenn viele gemeinsam träumen, ist es der Anfang einer neuen Wirklichkeit“, sagte einst Hundertwasser. Und tatsächlich, gerade erst ausgestiegen, träumt man schon gemeinsam mit einer riesigen Menschenmenge davon, den Bahnsteig verlassen zu können. An der engen Treppe zur Unterführung wird geschoben, geflucht und gerempelt, und nur langsam schiebt sich die Masse nach unten.

Wenig später erleben die Reisenden den Anfang einer neuen Wirklichkeit: Weil der Metronom aus Hamburg eingetroffen ist und hunderte weiterer Passagiere in den schmalen Tunnel drängen, geht gar nichts mehr. Man könnte sich nun um- und ansehen, wie wundersam Wände und Decken ineinander übergehen, denn eine Devise Hundertwassers war es, der „gottlosen“ geraden Linie den Kampf anzusagen. Und tatsächlich: jegliche Linien, Farben und Gesichter verschwimmen, während man zwischen schreienden Kindern, bepackten Fahrrädern, Rucksäcken und Koffern feststeckt.

Nach langen Minuten wird man vom Strom der Rempler und Drängler ausgespuckt und steht ramponiert mit dem ganzen Gepäck auf einem noch freien Quadratmeter des Abfahrtbahnsteigs; vorausgesetzt, man hat bei dieser Zahlenwirrnis auch den richtigen erwischt. Die noch flatternden Nerven verlangen nach einer Zigarette. Doch wie zahlreiche andere Bahnhöfe ist auch der Uelzener ein Nichtraucherbahnhof, im Gegensatz zu diesen sucht man hier allerdings eine Raucherinsel am Gleis vergeblich. Notgedrungen zündet man sich die Zigarette also dem Verbot zum Trotz an und nimmt einen tiefen Lungenzug. Die Nerven beruhigen sich, der Blutdruck und die Herzfrequenz sinken, als eine Lautsprecherdurchsage ertönt: „Sehr geehrte Fahrgäste, bitte beachten Sie, dies ist ein Nichtraucherbahnhof. Das gilt auch für die Herrschaften auf Gleis 103!“ Kleinmütig werden mehrere gerade angezündete Kippen gelöscht und in die Abfallbehälter geworfen. „Bitte benutzen Sie den Raucherbereich vor dem Bahnhofsgebäude“, schnarrt die Lautsprecherstimme weiter.

Der gemeinte Raucherbereich befindet sich dort, wo ein unförmiger kleiner Busfahrer mit bunt karierter Mütze nicht etwa zu einer Fahrt in die Anstalt, sondern zur Stadtbesichtigungstour einlädt. Dazu müsste man aber mitsamt Gepäck noch einmal herunter in den engen Tunnel, sich über eine Wendeltreppe und durch die Bahnhofshalle kämpfen, wo Postkarten und Kalender vom Kunstbahnhof und anderen Hundertwasser-Baustellen verhökert werden und wo Provinztouristen, die an einer Führung teilnehmen, alle Wege blockieren. Das geht zu weit!

Friedensreich Hundertwasser hat es geschafft: Auf Gleis 103 zwischen Säulen stehend, die über und über mit zerbrochenem Geschirr beklebt sind, ersehnt man nichts so sehr wie einen Bahnhof mit aufrechter Fassade, man wünscht sich weiße Wände, gerade Linien, Bänke und Aschenbecher. Es ist nur ein einsamer Traum, aber ein wunderschöner. GREGOR MOTHES