Abenteuer im Windschatten

Jugendliche mit Sucht- und Familienproblemen toben sich auf dem Sattel aus: Ein Dormagener Sportpädagoge lässt seine jungen Klienten hunderte Kilometer durch Spaniens Berge radeln. „Es geht um den Kämpferinstinkt“, sagt er

von LUTZ DEBUS

Auch nach acht Stunden im Sattel zeigt das Thermometer noch knapp 30 Grad Lufttemperatur an. Die Muskeln schmerzen. Hinter der Kurve folgt eine lang gezogene Steigung. Plötzlich schert der Zweite der Gruppe aus, verlässt den Windschatten seines Vordermannes. Das ist das Zeichen. Ein Rennen beginnt. Wer ist der erste am Gipfel?

Von Pamplona im Baskenland bis nach Gibraltar. Diese ausgedehnte Radtour unternahm Daniel Mastalerz mit einem halben Dutzend Jungs aus dem Jugendhilfezentrum Raphaelshaus in Dormagen. 2.260 Kilometer bewältigte seine Gruppe „Atlantico“ in 12 Tagen. Parallel dazu schaffte die Gruppe „Mediterane“, in der auch Mädchen mitfuhren, 1.600 Kilometer. Die Anfänger, darunter auch ein Elfjähriger, versuchten sich an der Distanz von 1.100 Kilometer. Die Neueinsteiger mussten aber mit dem Bus mehr als 450 Kilometer geshuttelt werden.

Ein Magen-Darminfekt hatte nach der Hälfte der Strecke, die sehr gebirgig ist, sowohl Jugendliche als auch Betreuer für Tage lahm gelegt und so den Zeitplan durcheinander gebracht. Trotzdem lagen sich die drei Gruppen nach knapp zwei Wochen beim Wiedersehen im britische Gibraltar in den Armen.

Eine beachtliche Leistung von allen Beteiligten, findet Mastalerz. Das Leben vieler der Jugendlichen war zuvor von Schulverweigerung, Diebstahl, Alkohol- und Drogendelikten gekennzeichnet. Der Sportpädagoge skizziert kurz die Ursachen. „Viele haben mit ihren Familien einfach Pech gehabt.“ Mastalerz berichtet von Eltern, die jahrelang arbeitslos waren, jede Hoffnung verloren hatten, Kindern keine Grenzen setzten oder selbst auch keine Grenzen einhalten konnten. Ein nicht unerheblicher Teil der Jugendlichen im Raphaelshaus habe Erfahrung mit Gewalt, auch sexualisierter Gewalt in den Familien. Und es komme vor, dass Kinder vom Jugendamt aus völlig verwahrlosten Wohnungen abgeholt werden.

Aus den auffällig gewordenen Kids sollen begeisterte Radsportler werden. So das Konzept der Fahrradgruppe des Raphaelshauses. Antriebslosen Jugendlichen, die den Kick im Drogenkonsum oder in Einbrüchen suchten, werde, so Mastalerz, eine echte Alternative geboten. „Es geht um den Kämpferinstinkt“, sagt der Pädagoge und weiß, dass er mit diesen Worten bei manchen Kollegen auf Unverständnis und Abwehr stößt. In jenem Alter suche man das Abenteuer, glaubt er. Und vieles, was auf der Tour erlebt werde, lasse sich auf das ganze Leben übertragen. Hier wie dort gebe es Höhen und Tiefen. Anstrengend sei der Aufstieg bei sengender Mittagssonne. Doch oben, auf über 1.000 Metern, werde man durch unvergessliche Momente belohnt. „Das sind Metaphern, die auch Jugendliche verstehen und auf ihr Leben übertragen können.“

Zudem lernen die Kids, dass sie einander helfen müssen. Bei früheren Touren ist Daniel Mastalerz immer vorneweg gefahren. Aber inzwischen ist der 41-jährige nicht immer der Leistungsstärkste. So wird er schon Mal von einem 18-Jährigen überholt, fährt bequem in dessen Windschatten.

Diesen Luxus wollten sich die Mädchen der Gruppe „Mediterane“ nicht leisten. Die Jungs, ganz Gentlemen, boten oft bei schweren Etappen ihre Hilfe an, ernteten aber nur ein wütend-trotziges: „Das schaffen wir auch ohne euch!“ Daniel Mastalerz kann von manch skurrilem Erlebnis berichten. So mündete irgendwo in der tiefsten Provinz die reguläre Straße in eine Autobahn. Die zufällig vorbeikommende Polizei eskortierte die Gruppe auf dem Standstreifen viele Kilometer bis zur nächsten Abfahrt, problemlos und ohne Mautgebühr. Aber auch der Alltag bot manche Herausforderung. An jedem Abend mussten etliche Kilo Nudeln zubereitet werden. Der Kraftstoff für den nächsten Tag. Doch mit einfachen Spirituskochern wurde dies bei knurrenden Mägen zur harten Geduldsprobe. Und zum Duschen kam man in den 14 Tagen nur vier Mal. Vielleicht auch ein Grund, warum die Mädchen nicht im Windschatten der Jungs fahren wollten.

Die Tour durch Spanien war nicht die erste von Daniel Mastalerz. In den vergangenen Jahren hat er mit Jugendlichen schon einige europäische Länder durchkreuzt. Während des Krieges im Irak habe er den Kids vom Raphaelshaus einige Schauplätze der beiden Weltkriege gezeigt. Und die letzte Tour war mit einer Spendenaktion verbunden. Für jeden gefahrenen Kilometer überwiesen Dormagener Geschäftsleute einen Euro an eine Mädchenschule in Afghanistan. Das Ziel für das kommende Jahr ist noch nicht festgelegt. Aber eines ist schon klar: Daniel Mastalerz sucht bereits jetzt fahrrad- und menschenbegeisterte Ehrenamtliche.