: Die unendliche Geschichte vom Viktoria-Quartier
Auf dem Gelände der alten Schultheiss-Brauerei am Kreuzberg hatte der Bezirk ein ausgewogenes Verhältnis von Kultur, Gewerbe und Wohnungen angestrebt. Den Investor kümmert das wenig: Gebaut und renoviert wird, was sich verkaufen lässt. So zerfällt das Ensemble in kleine Einheiten
von Hans W. Korfmann
Die Stadt wächst noch immer. Sie wächst aber nicht mehr an ihren Enden, sondern in ihrer Mitte. Da rücken die Häuser immer dichter aneinander und wollen immer höher hinaus. Bauunternehmer nutzen jeden Quadratmeter. Auch im Viktoria-Quartier südlich des Kreuzbergs wird des nun allmählich eng.
Eigentlich strebte der Bezirk hier ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Kultur, Gewerbe und Immobilie, zwischen öffentlichem und privatem Raum an, und machte dies den Käufern des Areals auch zur Auflage. Er konnte jedoch nicht verhindern, dass aus dem nun bayrischen Boden Eigentums- und Mietshäuser wie die Pilze sprießen. Im Grunde nämlich kann der Bezirk der Münchner Baywobau, die die alte Schultheiss-Brauerei 2003 von der in die finanzielle Enge geratenen Stadt erstand, keine Vorschriften machen. Und was mit den Gebäuden der Brauerei geschieht, liegt eher in den Händen des Unternehmens als in denen der Denkmalschützer.
Trotzdem sieht der Kreuzberger Baustadtrat Franz Schulz (Grüne) in der Entwicklung der vergangenen Jahre nicht nur Nachteile. Die Neubauten, die in der Nähe der Dudenstraße entstehen und quasi ein eigenes Viertel bilden sollten, werden nach den aktuellen Entwürfen um einiges niedriger und auch nicht in der einst geplanten Dichte gebaut. Und zwischen der Bartschen Promenade und der alten Maschinenhalle soll sogar ein Platz angelegt werden. „Das ist mutig“, meint Schulz, „und man könnte mich fragen, warum ich nicht in Jubel ausbreche.“
Es gibt zwei Punkte, die dem Baustadtrat nicht behagen: Zum einen werden durch das neue Konzept mit Vorgärten und Loggien zwar Grünflächen geschaffen, aber keine öffentlichen, sondern rein private. Der zweite Punkt ist, dass das Quartier als ein sinnvolles Ganzes geplant war. Nun zerfällt es in immer kleinere, autonome Einheiten und Strukturen, bei denen die großen Gebäude auf dem Platz unberücksichtigt bleiben.
Von der Vision der Zeichner, die noch auf einem großen Transparent an der Methfesselstraße festgehalten ist, hat die Realität nicht viel gelassen. Denn die Baywobau entscheidet stets kurzfristig, was wo wie gebaut wird, und richtet sich dabei nach Marktanalysen und Nachfrage – nicht nach Architekten oder Stadtplanern. Vor dem Ostflügel des Tivoligebäudes, wo die Visionäre einst einen kleinen Park mit vielen dunkelgrünen Bäumen eingezeichnet hatten, ist kaum noch Platz für Grün geblieben. Da stehen jetzt vier kleine Reihenhäuser in Weiß. Sie ähneln einander wie eineiige Vierlinge. Lediglich in den Vorgärten – jeweils von zwei Meter hohen Zementwänden getrennt, um trotz „mediterraner Enge“ die in Westeuropa so geschätzte Privatsphäre zu schützen – könnten die Mieter noch zwischen Rosen, Tulpen und Geranien entscheiden.
Doch die imposanteste Veränderung gegenüber den ursprünglichen Plänen sind die zweifarbigen Wohntürme, die im Lauf des Spätsommers unmittelbar unter dem alten Schinkeldenkmal in den Himmel gewachsen sind. Auf dem Transparent sehen die zwei Wohneinheiten am „Weinberg“, einer aus Natursteinen gemauerten Terrasse unterhalb des Denkmals, noch bescheiden aus. Jetzt stehen dort zwei vierstöckige Miethäuser mit ausgebauten Dachgeschossen, die in ihrer Höhe durchaus mit der „Freiheitsstatue“ auf dem Kreuzberg konkurrieren. Und wo einst der Besucher am Fuß des Denkmals den Blick über die Brauerei und dann die ganze Stadt hinweg nach Süden werfen konnte, schieben sich nun die ziegelfarben und weiß gestrichenen Wände einer konservativen bayrischen Gegenwartsarchitektur ins Bild. So genannte Stadthäuser für mehrere Familien, Eigentumshäuschen mit kleinen Gärten vor der Tür und kleinere Mietshäuser, von denen auf dem Plan meist noch keine Spur zu sehen war.
Selbst Baustadtrat Schulz kann sich bei dem Begriff der „mediterranen Enge“, mit dem die Firma ihre Heime potenziellen Mietern oder Käufern schmackhaft machen möchte, ein Grinsen nicht verkneifen. Den poetischen Begriff vom „Arabischen Hof“ im alten Maschinenhaus hat der Baustadtrat allerdings mit einiger Sympathie aufgegriffen. Denn das große Gebäude unmittelbar unterhalb des Denkmals eignete sich wegen der schießschartenähnlichen Fenster nicht zum Umbau in Wohnungen: Der Denkmalschutz verbot eine Vergrößerung der Gucklöcher zu Fenstern. Also verfielen die baywojarischen Architekten auf die Idee, das Maschinenhaus zu entkernen und unter einem Dach aus Glas zwei kleinere, zweistöckige Gebäude zu errichten. Dieses Konzept des „arabischen Hofes“, in dem sich hinter hohen Mauern kleine Gebäude befinden, stößt auch bei potenziellen Käufern eines Eigenheimes am Kreuzberg auf Interesse. Wahrscheinlich wird die architektonische Fantasie deswegen auch in die Tat umgesetzt.
Die Rentabilität nämlich ist stets das entscheidende Argument der Baywobau gegenüber der Stadt und ihren Ansprüchen. Denn egal, wozu sich der Käufer des Grundstücks auch verpflichtet hat: Sobald es zu teuer wird, ist er von den Verpflichtungen befreit. „Die Baywobau“, so Baustadtrat Schulz, „kann zum Sanieren der Altbauten nicht gezwungen werden.“ Sie muss lediglich nachweisen, dass sie sich ernsthaft nach einer rentablen Nutzungsmöglichkeit der Altbauten umsieht. Und diesen Nachweis konnte sie bislang stets erbringen. Dennoch bezeichnet Schulz das Verhältnis zu dem Investor, nach anfänglichen Streitereien wegen des unakzeptablen Umgangs der Bayern mit den Mietern des Quartiers, inzwischen als professionell und gut.
Wie ernst allerdings die Baywobau nach neuen Wegen zu den alten Bauten sucht, darüber gehen die Meinungen nicht nur im Kreuzberger Rathaus auseinander. Es ist verdächtig, dass bislang alle Angebote seitens des Bezirks oder seitens der Privatunternehmer dankend abgelehnt wurden. Zwischennutzungskonzepte, wie die Einrichtung einer Disko im dickwandigen Maschinenhaus, wurden ebenso mit Kopfschütteln bedacht wie der geplante Umbau zum Wellnesscenter.
Verdächtig ist auch, dass die Baywobau offensichtlich keinen einzigen Mitarbeiter damit beauftragt hat, sich um eine veritable Nutzungsmöglichkeit der Altbauten zu kümmern. Lediglich im Internet protzt der Unternehmer ein bisschen mit dem einst „größten Saalgebäude Berlins“, das mit „seiner historischen Architektur und den großen, bis zu neun Meter hohen Räumen“ ideal „für eine kulturelle oder gastronomische Nutzung“ sei.
Sollte sich auf diese Annonce jedoch kein Käufer oder Mieter melden, dann wird das stattliche Baudenkmal unter der „Freiheitsstatue“ wahrscheinlich weiter verfallen. Denkmalschutz ist keine Denkmalpflege. Denkmalschutz scheint für den Unternehmer zu bedeuten: Wir dürfen es nicht einreißen, also warten wir, bis es zusammenbricht. So wird die Restaurierung täglich kostspieliger, wodurch die Rentabilität ebenso täglich sinkt.
Womöglich ist das die Taktik der Baywobau, die schließlich gewinnorientiert arbeitet. Hier geht es nicht um sozialverträgliche Mieten: Hier geht es um Eigenheime. Hier geht es nicht um Baudenkmäler, sondern um Grundstücke in bester Lage. Baugrund. Neubaugrund. Den handelnden Politikern scheinen die Hände gebunden. Zu groß sind die Gesetzeslücken, in denen sich Immobilienhändler breit machen können. Sie probieren es auf dem Teufelsberg mit Blick über die Stadt, an den Ufern der Havel oder der Spree, oder eben auf dem Kreuzberg mit dem Wasserfall. Immer möglichst nahe dran an den kleinen Inseln der so genannten Naherholungsgebiete. Zum Ärger der alteingesessenen Anrainer, und zum Wohl einiger gut zahlender neuer Mieter und Hauseigentümer.
Doch auch die sind nicht immer zufrieden, allein schon der ewigen Bauarbeiten wegen. „Was soll denn hier noch alles hingebaut werden?“, fragt eine Mieterin, die schon seit drei Jahren auf der Baustelle wohnt. „Ohne Bauarbeiten keine Wohnungen!“, könnte die Baywobau mit gewissem Recht argumentieren. Die Sicht der Mieter aus dem Viktoria-Quartier ist so einseitig wie die der Gegner des neuen Kiezes. Um sich ein objektives Bild vom Geschehen machen zu können, wäre es notwendig gewesen, auch die andere Seite zu hören. Doch die verhält sich still. Die Pressesprecherin der bayrischen Firma wollte, konnte oder durfte sich nicht äußern. „Wir haben schon so viel schlechte Presse gehabt hier in Berlin“, verriet eine der Mitarbeiterinnen der Firma, „da sind wir natürlich ein bisschen vorsichtig geworden.“