Das Groteske im Bösen

WERKSCHAU Diktatoren, Volksverhetzer, Juristen: Sie sind das Personal der Prozesse, die der Schweizer Theatermacher Milo Rau reinszeniert. Drei Tage lang ist in den Sophiensælen eine Zusammenfassung zu sehen

Bei Raus Inszenierungen verschiebt sich die Realität, Mechanismen werden sichtbar

VON TOM MUSTROPH

Ein Schauerkabinett der besonderen Art richtet der Schweizer Theaterkünstler Milo Rau unter dem Titel „Die Enthüllung des Realen“ in den Sophiensælen ein. Das rumänische Diktatorenehepaar Ceausescu, Propagandisten des Genozids in Ruanda und der norwegische Massenmörder Anders Breivik tauchen in Form von Installationen, Filmen und Videodokumentationen in dieser Werkschau auf. Doch sie ist trotz ihrer berüchtigten Belegschaft mehr als nur ein Abklatsch der Gruselecke aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett.

Denn Rau stellt nicht nur das Böse aus. Er versucht ihm unerschrocken auf den Grund zu gehen und fördert dabei als eulenspiegelhafter Wiedergänger von Hannah Arendt auch die grotesken Seiten der Bösen zutage. Damit ist Rau einer der wenigen wirklich aufregenden Gestalten im deutschsprachigen Theaterbetrieb. Seine Wirkung lässt sich auf einer simplen Ebene an den Kräften ablesen, die ihn mundtot machen wollen.

Einreiseverbot in Russland

In Russland erhielt er Einreiseverbot wegen seiner performativen Neuverhandlung dreier Schauprozesse der russischen Justiz gegen die Kuratoren der Ausstellungen „Achtung, Religion“ und „Verbotene Kunst 2006“ sowie die feministische Punkband Pussy Riot. In Weimar distanzierte sich der Intendant des Nationaltheaters von der als Uraufführung beworbenen Lesung der einstündigen Verteidigungsrede Breiviks. In der Schweiz wurde nach einer Medienkampagne ein geplantes Projekt Raus abgesagt. Es sollte von dem Mord eines albanischen Migranten am Lehrer seiner Tochter handeln, der hitzige Debatten über Einwanderung ausgelöst hatte.

Konterte Rau die Absage in der Schweiz mit einem Projekt über das Ausländerstimmrecht, so nimmt er die Weimarer Ereignisse mit Humor. „Ich fahre dort nur noch mit dem Zug durch, im verplombten Waggon wie einst Lenin“, frotzelt er. Im Falle Russlands erstaunt ihn, dass die Justiz die einheimischen Kritiker ein- und ausreisen lasse – jedenfalls die, die gerade nicht eingesperrt sind –, an ihm als Schweizer aber ein Exempel statuiere.

„Verdient“ hat sich Rau derartige Feindseligkeiten, weil er dorthin geht, wo es wehtut. Er reist nicht nur zu Recherchezwecken an die Ereignisorte. „Ich muss mit den Leuten reden und mir die Orte angucken. Sonst könnte ich keine Fantasien entwickeln. Ich muss wissen, wie die Einrichtung aussieht, wie die Leute reden, um später eine dichte Atmosphäre erzeugen und mir selber die Erlaubnis geben zu können, nachher etwas zu erfinden“, erläutert er seinen Ansatz. Die eigentliche Besonderheit aber ist, mit den fertigen Inszenierungen an den Originalschauplatz zurückzukehren – und sich dem Urteil und den Kritiken von Zeugen, Opfern und Tätern auszusetzen. Das hat enorme Wirkungen.

In Ruanda meinten Zuschauer nach der Präsentation von „Hate Radio“, dem Re-Enactment einer Radiostation, die zwischen Songs von Nirvana und Joe Dassin zum Völkermord aufrief: „Ja, genau so war es.“ Ein Mitglied des Ensembles stieg hingegen aus dem Projekt wieder aus. „Er geriet von Seiten seiner Familie unter Druck“, sagt Rau. Bei den „Moskauer Prozessen“ bekam er es mit Kosaken zu tun, die die Aufführung stürmten, aber wieder betreten abzogen, als sie eines ihrer Idole in der Rolle des Anklagevertreters gegen die inkriminierten Künstler sahen.

Bei Raus Inszenierungen – „Hate Radio“ wurde zum Theatertreffen eingeladen – verschiebt sich die Realität so, dass Mechanismen sichtbarer werden. Es passiert aber auch, dass sich die Koordinaten auflösen, dass man etwa die Eloquenz eines nationalistischen russischen Anklägers bewundert oder Sympathien für den Darsteller eines Hetzers zu hegen beginnt.

Ergänzt wird die dreitägige Werkschau durch drei Podiumsdiskussionen. Am Donnerstag diskutieren Experten aus Theater, bildender Kunst und Philosophie Raus Arbeiten. Am Freitag entwirft er selbst gemeinsam mit den Künstlerkollegen Rabih Mroue und Dmitri Vilenski, was politische Kunst bedeutet. „Wir machen das ganz technisch, wie die Dogma-Leute“, so Rau zur taz. Am Samstag schließlich geht es um den Gehalt des Begriffs „Genozid“. Rau legt Wert auf die Feststellung, dass diese Diskussion nicht nur am Jahrestag der Pogromnacht stattfindet, sondern auch in der Schweizer Botschaft als dem Gebäude, in dem in den 30er Jahren der „Judenstempel“ als bürokratische Maßnahme erdacht wurde, um deutschen Juden die Ausreise in die Schweiz zu erschweren. Moderiert werden alle Diskussionen von Impulse-Kurator Florian Malzacher.

Wenn in Berlin die Installationen wieder eingepackt werden, geht Rau in Vorbereitung seines neuen Projekts „The Civil Wars“ übrigens nach Belgien, um sich dort mit Müttern zu treffen, deren Söhne als islamistische Kämpfer im syrischen Bürgerkrieg angeheuert haben. Mangel an Stoff bietet diese Welt für einen Milo Rau offenbar nicht.

■ Sophiensæle, 7.–9. 11., Talkshow 9. 11. in der Schweizer Botschaft