berliner szenen Tiefe Wurzeln

Restaurierungsarbeit

Es war Vormittag. Mit dem Rad war ich von Kreuzberg nach Charlottenburg gefahren, wie immer ein bisschen zu spät, hatte mir vorgestellt, wie es sein würde, dann wieder versucht, die Zeit zu dehnen, indem ich mich aufs Fahrradfahren konzentrierte und auf die Muskelbewegungen meiner Beine. Wie immer war mir die Strecke zwischen Zoo und Bleibtreustraße unendlich lang vorgekommen.

Dann lag ich wieder auf dem Zahnarztstuhl und guckte mir den Stuck an der weißen Decke an, nachdem mich die Ärztin zur Behandlung hineingebeten hatte. Sofort setzte sie ihre Arbeit an einem kaputten Eckzahn fort, ohne zu fragen, ob ich betäubt werden wollte. Ich hatte wie immer etwas verkrampft dagelegen, und halb zu mir, halb zur hübschen Assistentin gewandt, hatte die Zahnärztin gesagt, dieser Zahn sei innerlich verfault. Mehrfach hatte sie gesagt, dass der Eckzahn tot sei, ich also keine Angst zu haben brauche. Da gäbe es gar nichts mehr zu spüren.

Sie restaurierte ihn, bat die Assistentin, ihr Dinge zu geben, deren Namen ich nicht kannte, und sprach von den neuen, tragenden Wänden, die sie in den Schrottzahn einbauen wollte, damit irgendwelche komplizierten Füllungen irgendwie noch Halt finden könnten. Die Wurzelkanäle, die sie mit großer Ruhe und Sorgfalt ausfeilte, waren erstaunlich tief. Manchmal spürte ich momentweise die tröstende warme Hüfte der Assistentin an meiner Seite. Manchmal schaute ich aus dem Fenster auf einen Baum – wie der sich so bewegte im leichten Wind. Danach kaufte ich mir eine teure Jeans bei Peek und Cloppenburg und ein hellblau gestreiftes Hemd mit halbem Ärmel. Die nette Verkäuferin hatte mir von Dunklem abgeraten und helle, freundliche Töne empfohlen. DETLEF KUHLBRODT