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Archiv-Artikel

Drei Monate Wartezeit

Therapeuten für psychisch auffällige Kinder sind rar. Selbst wenn das Kind sich vehement weigert, in die Schule zu gehen, müssen die besorgten Eltern in manchen Regionen mehrere Monate warten, bis sie endlich professionelle Hilfe bekommen

So müssen zehn Therapeuten 18.000 psychisch kranke Kinder versorgen

VON CLAUDIA BORCHARD-TUCH

„Sind drei Monate Wartezeit normal bei einem Kinderpsychiater?“, fragt eine gestresste Mutter in einem Hilfeforum im Internet, deren Tochter den Besuch der Schule verweigert. Ja, antworten ihr andere. Im Gegenteil: Die Wartezeit sei sogar ziemlich kurz. Am besten solle sie gleich an anderer Stelle nach Hilfe suchen – vielleicht beim Schulpsychologischen Dienst.

Auch das ZDF-Magazin „Frontal 21“ klagte vor kurzem über einen „Therapeutennotstand in Deutschland“. Auf 800.000 seelisch erkrankte Kinder und Jugendliche kämen gerade einmal rund 2.300 Kindertherapeuten.

Und mehr kann und darf es nicht geben. Denn die Gesamtzahl der Therapeuten ist durch eine Bedarfsplanung begrenzt, die die Bundesregierung für ausreichend hält. Es lägen „keine Erkenntnisse über generelle Versorgungsprobleme“ vor, antwortete die Bundesregierung auf eine Anfrage der FDP-Fraktion. Die Liberalen hatten auf Aussagen der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) verwiesen, in denen „ein Besorgnis erregend hoher Anteil von Kindern und Jugendlichen von circa fünf Prozent psychisch auffällig beziehungsweise behandlungsbedürftig“ sei.

Dem stimmt die Bundesregierung zu – für sie sind fünf Prozent sogar nur die untere Grenze. In ihrer Antwort heißt es, dass sich die Zahlen je nach zugrunde liegender Erhebung sehr unterscheiden würden. Eine Studie ginge davon aus, dass bis zu 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter behandlungsbedürftigen psychischen Störungen leiden würden. Auch seien „Aussagen von Berufsverbänden und der Bundespsychotherapeutenkammer über Engpässe in ländlichen Gebieten und in Ostdeutschland bekannt“.

Trotz alledem: Der Bundesregierung liegen „keine Anhaltspunkte für größere Versorgungsengpässe im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie“ vor. Sie verweist dabei auf entsprechende Stellungnahmen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Spitzenverbände der Krankenkassen und erklärt: „Die Frage der Behebung von Unterversorgung stellt sich deshalb im Moment nicht.“ Eine gesonderte Bedarfsplanung für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten hält die Bundesregierung nicht „für unbedingt erforderlich“. Sachgerecht sei es vielmehr, lokalen Versorgungsengpässen mit Sonderbedarfszulassungen zu begegnen.

Timo Harfst, Referent der BPtK, ist anderer Ansicht. Seit Jahren habe das Instrument der Sonderbedarfszulassung die Unterversorgung nicht behoben, meint er. So sind in Sachsen-Anhalt beispielsweise nur zwei Kinderpsychotherapeuten zugelassen und acht Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Geht man davon aus, dass fünf Prozent der Kinder behandlungsbedürftig sind, so müssen zehn Therapeuten 18.000 psychisch kranke Kinder versorgen.

In anderen ostdeutschen Ländern ist die Lage nicht besser. Offenbar verschließt sich die Bundesregierung dem Problem, indem sie die Einführung eines Mindestversorgungsgrades für psychisch kranke Kinder, der sich am Anteil von Kindern und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung und der Häufigkeit kindlicher psychischer Erkrankungen orientiert, für „nicht zielführend“ erklärt.

Verbessern könnte sich die Situation durch die von der Bundespsychotherapeutenkammer geforderte Einführung einer getrennten Bedarfsplanung für Erwachsenen- und für Kindertherapeuten. Hierdurch würde erreicht werden, dass Kinderpsychotherapeuten und Erwachsenentherapeuten zwei verschiedene Arztgruppen bilden, und bundesweit könnten sich 866 zusätzliche Kinder- und Jugendpsychotherapeuten niederlassen.

Schwierig dabei: Zum einen müssten dafür die gesetzlichen Regelungen geändert werden. Zum anderen würde die getrennte Bedarfsplanung Mehrausgaben der Krankenkassen in Höhe von 207 Millionen Euro verursachen, die diese wahrscheinlich nicht bereit sind zu zahlen. Doch Sparen an der falschen Stelle kann die gesamte Gesellschaft teuer zu stehen kommen. Denn für ein Kind, dessen seelisches Leid nicht frühzeitig behandelt wurde, wird sie später ein ganzes Leben lang zahlen müssen.