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Archiv-Artikel

PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH Blut ist doch dicker als Wasser

Auch in mir schlummert ein Clanchef. Und darum werde ich meinen Nachbarn wohl doch erschießen müssen

Ungeheuerliches ist passiert: Mein Sohn ist geschlagen worden. Ins Gesicht. Von einem fremden Mann in der Nachbarschaft. Nur weil der 8-Jährige durch ein Guckloch in die Garage hineingeschaut hatte und dabei vom Besitzer derselben überrascht wurde, fing er eine Backpfeife ein, die sich gewaschen hatte. Der Ohrenarzt meinte später, der Schlag hätte im Innenohr eine Wirkung entfaltet, wie wenn man einen Abend lang neben dem Basslautsprecher einer Disko gesessen hätte. Mein Sohn war tief gekränkt und verlangte nach Rache. „Papa, du musst etwas tun“, schrieb er in einer E-Mail, und ich las sie, 6.000 Kilometer weit entfernt, in Mogadischu.

Ich fragte meinen Begleiter Omar Olat: „Was soll ich tun? Was würde man hier tun, wenn ein fremder Mann ein Kind schlägt?“ „Oh“, sagt Omar und machte ein ernstes Gesicht, „wenn er von einem anderen Clan ist, dann …“, und dann sagte er nochmals: „Oh.“ Ich schickte meinem Sohn per E-Mail ein Foto, das mich inmitten von zwölf schwer bewaffneten somalischen Leibwächtern zeigt, die mit Maschinengewehren, Panzerfäusten und weiteren dicken Rohren jeden abschrecken sollen, der nur die Idee haben könnte, mich zu entführen. „Ich werde“, schrieb ich dazu, „einen dieser Männer mal bitten, bei unserem Nachbarn vorbeizuschauen.“ Das hätte ich vielleicht nicht tun sollen, denn nun glaubt mein Sohn tatsächlich, dass, wenn ich nach Hause komme, der Nachbar erschossen wird. Er hält das auch für völlig angebracht. Er hat Gewalt durch Erwachsene noch nie am eigenen Leib erlebt. Er will Rache.

Vor ein paar Tagen war ich in einem Krankenhaus in Mogadischu, da lag der 10-jährige Baschir im Bett mit einem dicken Verband um den Hals. Er konnte nicht sprechen, aber sein Vater erzählte, was geschehen war. Seit Tagen kämpfen Milizen in der Stadt um Häuser, Straßen, strategisch wichtige Punkte. Das Haus lag in der Schusslinie, und eine Kugel traf den Jungen in den Hals. Sie durchschlug ihn, ohne Schlagadern, Speiseröhre, Luftröhre und Kehlkopf zu verletzen. Jedenfalls nicht so schwer, dass die Verletzungen nicht wieder heilen würden. Baschir wird in ein paar Wochen wieder gesund sein, Inschallah. Was wird Baschirs Vater tun? Ein russisches Schnellfeuergewehr vom Typ AK-47 kostet auf dem Markt von Mogadischu 150 Dollar. So viel sollte einem die Rache für sein Kind doch wert sein. Tust du meinem Clan was, tu ich deinem Clan was. Mogadischu funktioniert im Grunde nicht anders als ein Mehrfamilienhaus in Gießen. Wenn einmal der Wurm zwischen den Parteien drin ist, dreht sich die Spirale.

In Gießen rennt man zum Rechtsanwalt, in Mogadischu gleich zum Waffenbasar. Das ist der einzige Unterschied.

Traurig, wer keinen Clan hat, der ihm hilft in der Not. Ging mir früher das Geld aus, fragte ich Tante Irene um Beistand. Wurde meine Mutter von einem Lokalpolitiker beleidigt, schrieb ich ihn in der Zeitung nieder.

Blut, sagt meine Schwiegermutter Margret, „ist dicker als Wasser.“ Der sizilianische Begriff „la famiglia“ kommt der Sache schon näher.

Gestern habe ich mich auf die Heimreise gemacht und rief von unterwegs zu Hause an. „Und“, fragte mein Sohn, „hast du ihn dabei?“ – „Wen?“ – „Den Leibwächter?“ – „Hör her“, versuchte ich ihm zu erklären, „wir können ihn nicht erschießen wegen einer Ohrfeige, aber wir können ihm das Foto zeigen und sagen, wenn er so was noch einmal macht, dann würden diese Männer bei ihm aufkreuzen – und dann gute Nacht.“

Er war nur bedingt zufrieden.

’n paar aufs Maul? kolumne@taz.de Montag: Peter Unfried über CHARTS