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Archiv-Artikel

Bisschen nachhelfen beim Selbstmord

DRAMAKING Lüge und Wahrheit wohnen eng zusammen in den Stücken des britischen Dramatikers Dennis Kelly. Und Wirklichkeit vermitteln seine Stücke fett: Deshalb haben auch deutsche Bühnen ihn entdeckt. Mit „Liebe und Geld“ ist er beim Theatertreffen dabei

Statt mit herausgeknallter Wut setzt Kelly mit seelenruhiger Präzision ein Räderwerk in Gang

VON SIMONE KAEMPF

Wenn ein Vorspann ankündigt, dass die folgende Geschichte auf wahren Begebenheiten beruht, steigt die Bereitschaft, das zu glauben, was erzählt wird. Nicht anders als im Kino funktioniert das in Dennis Kellys Theaterstück „Taking Care of Baby“, das mit der Vorbemerkung beginnt, der Text stamme Wort für Wort aus Interviews und Schriftwechseln, nichts sei hinzugefügt und alles im Originalwortlaut der Betroffenen belassen.

Wie in einer Zeugenaussage erzählt dann die dreißigjährige Donna von ihrer Zeit in Untersuchungshaft. Ihr Baby starb am plötzlichen Kindstod. Die Polizei hat sie festgenommen, weil vor Jahren bereits ihre Tochter erstickt war. Nach und nach kommen die Beteiligten zu Wort. Als Zuschauer glaubt man sich auf der sicheren Seite, dass hier ein Kindsmorddrama rekonstruiert wird. Der Psychiater hat eine Junge-Mütter-Krankheit namens LKS diagnostiziert. Alles scheint klar, und doch bleibt Donnas Schuld eine Suggestion, die erst im Kopf des Zuschauers vollendet wird.

Dennis Kellys Stücke sind Spiele mit der Wahrheitsfindung. In „Nach dem Ende“ zum Beispiel verschanzt sich Mark mit Louise in einem Atombunker im Garten. Zu ihrem Schutz, weil draußen alles verseucht ist. Den Nuklearkrieg hat Mark der jungen Frau allerdings nur weisgemacht, um sie in aller Ruhe zu vergewaltigen. Und auch „Taking Care of Baby“ zielt darauf ab, wie einfach sich die Idee von Wahrheit instrumentalisieren lässt. Schon der erste Eindruck, dass das Stück auf einem realen Fall basiert, ist ein Fake, eine Lüge, die Kelly auftischt und die ihren Ursprung in Zorn hat.

Als der Dramatiker das Stück vor drei Jahren schrieb, hatte in England das Bedürfnis zugenommen, mithilfe des Doku-Dramas in Theater, Film und Literatur so etwas wie die Wahrheit erzählt zu bekommen. Eine Entwicklung, die ihn nicht nur misstrauisch, sondern auch zornig macht, sagt der knapp Vierzigjährige, weil sie die falschen Signale ausstrahlt. „Wenn wir ehrlich sind, weiß niemand von uns, was die Wahrheit ist. Ich selbst brauche sie auch nicht und habe einen Weg gesucht, darüber zu schreiben.“

Man könnte Kelly als angry young man bezeichnen. Einer, der selbst in London in einfachen Verhältnissen aufwuchs und über das schreibt, was ihm stinkt. Aber statt mit herausgeknallter Wut setzt Kelly, der nach einer Reihe von Supermarkt- und Lagerjobs den Absprung zum Drama-and Arts-Studium ans Londoner Goldsmith College schaffte, mit seelenruhiger Präzision ein Räderwerk in Gang. Aus simplen Ausgangssituationen entwickelt er hochkomplexe Theaterstücke, die sich zu einem Denkfeld öffnen.

Oft umreißen schon einzelne Szenen ein prekäre universale Ordnung: wie sich in „Schutt“ eine schwangere Frau mit einem Glas eingelegten Zwiebeln eine Kulturfernsehsendung anschaut, in der diskutiert wird, dass es für den Menschen heutzutage unmöglich sei, etwas Neues zu erschaffen. Oder wie die Vertriebschefin Val in „Liebe und Geld“ ausspricht, was sie fühlte, als die Flugzeuge in die Türme geflogen sind: Erregung, dass endlich etwas passiert und sie jetzt nicht mehr so leben müsse wie bisher. „Und ich weiß noch, dass ich das auch in anderen Menschen zu sehen glaubte, während wir die Entwicklungen verfolgten, und ich traute denen nicht so ganz, die entsetzt wirkten. Aber ich habe damals nichts gesagt.“

Was in dieser Szene aus dem gesellschaftlichen Unterbewusstsein aufsteigt, hat den Baseler Schauspieldirektor und Regisseur Elias Perrig nicht mehr losgelassen, als er vor zweieinhalb Jahren das Stück für sich entdeckt hat. Auch am Theater Magdeburg hatte Chefdramaturgin Ute Scharfenberg „Liebe und Geld“ früh auf den Spielplan gesetzt, „weil hier Figuren in ihrer Zerrissenheit gezeigt werden, fähig zur Güte und zugleich zum Gräuel, erschrocken über sich selbst und ständig bemüht, ihr Handeln wieder in ihr Denksystem zurückzudefinieren, was ihnen nicht mehr richtig gelingt.“

Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Dramatiker von den deutschsprachigen Theatern entdeckt wurde, in Mainz, Basel, Hamburg, Berlin, Wien, Potsdam und noch einigen Theatern mehr spielt man ihn. Auf der Suche nach zeitgenössischen Stoffen schaut man nach Großbritannien, wo Texte entstehen, die radikaler als andere verdeutlichen, wie sich gesellschaftliche Veränderungen auf das private Zusammenleben auswirken. In den 90er-Jahren waren es die Stücke von Sarah Kane, Mitte der Nullerjahre machte Simon Stephens die Verunsicherung und Vereinzelung zum Thema, die auf die Paranoia nach dem britischen Irakeinsatz und dem Londoner Terroranschlag folgten.

Kellys „Liebe und Geld“, das ab morgen in der Regie von Stephan Kimmig beim Theatertreffen zu sehen ist, zeigt anhand zugespitzter ökonomischer Tauschbeziehungen, wie das Wertesystem viel zu eng geworden ist für Entscheidungen, die einem die marktfixierte Gegenwart abverlangt. In losen Szenen wird eine Ehe von ihrem Ende her erzählt: David hat beim Selbstmord seiner Frau nachgeholfen, den Ford Mondeo vor Augen, den er sich leisten könnte, wenn er mit ihrem Tod auch die Schulden loswird. Die kaufsüchtige Jess wird zur Beteiligten an einem Raubmord, weil sie den Umweg über eine Einkaufsstraße nahm. Nach ihrem Tod zerstören die Eltern das marmorne Nebengrab, dass sie sich selbst nicht leisten können. In jeder Szene stecken religiöse Hinweise, die das Stück ins Symbolische öffnen und eine Welt ohne ordnende Instanz vorführen, in der das Miteinander anderen Notwendigkeiten folgt.

Stephan Kimmig lässt „Liebe und Geld“ in einem Wohnskelett mit Betten, Leitern und Kleiderhaken mehr erzählen als spielen. Der Text weist so kaum über das Private hinaus, betont jedoch, dass Kellys Figuren im Nahen und Vertrauten angelegt sind.

Der Dramatiker schreibt auch fürs Fernsehen, und das hat ihm den Blick geschärft, dass Dialoge fürs Theater kraftvoller und flashy sein müssten. „Am Theater dramatisch zu sein, bedeutet, dass jeder Satz eine Wirkung auf das Gegenüber haben muss.“ So variiert Kelly Monologbrocken mit Dialogen, bis er zu dem vordringt, was passiert ist. Und das ist immer ein schmerzhafter Prozess.