: Die Zukunft wird überbewertet
ERINNERUNGEN Joanna Bator schrammt knapp am Kitsch entlang. Egal. Entscheidend im Roman „Wolkenfern“ ist ihre überbordende Erzählfreude
VON SABINE SEIFERT
Sandberg“ war Joanna Bators Romandebüt, 2011 auf Deutsch erschienen, ein großartiges Buch, das einen gewagten Einstieg hatte – ein mäandernder Sprachfluss, in dem die Wünsche und Ängste der Polin Jadzia Chmura aus ihrem tiefsten Innern nach oben getragen wurden. Die kleine rundliche Jadzia und ihre hagere, sich allem verweigernde Tochter Dominika sind auch die Hauptfiguren in Bators neuem Roman „Wolkenfern“, verklammern Geschichte und Gegenwart; während Jadzia nichts von der Vergangenheit wissen will, ist Dominika von ihr besessen oder besser: beseelt.
Joanna Bator, Jahrgang 1968, wuchs in Walbrzych, zu Deutsch Waldenburg, einer Kleinstadt in Westpolen, auf. Dort am Rande steht der „Sandberg“ oder Piaskowa Góra, eine Plattenbausiedlung, in der Dominika mit ihren Eltern aufgewachsen ist. Führte „Sandberg“ in die siebziger Jahre, in den rauen Alltag einer Bergarbeiterstadt im polnischen Realsozialismus, dessen Errungenschaften so mickrig sind, dass Jadzia ihm am liebsten mithilfe brasilianischer Telenovelas entflieht, setzt „Wolkenfern“ 1989 ein. Dominika erwacht nach einem Verkehrsunfall in einer deutschen Klinik aus dem Koma und macht fortan ihren Weg durch die – vorwiegend – westliche Welt.
Geschichten ausgraben
„Die Sehnsucht in den Erzählungen meiner Eltern war in die Zukunft gerichtet“, schreibt Joanna Bator in einem autobiografischen Text, „weil ihnen immer die Hoffnung blieb, dass ihre Kinder eine bessere Zukunft haben würden. Ich war ein Kind der Zukunft, eine Prinzessin aus dem Märchen, das erst geschehen wird. Wozu sollte man alte Geschichten ausgraben?“
„Wolkenfern“ macht das Ausgraben alter Geschichten zum Prinzip. Im Schachtelsystem. Mit jeder Figur fängt eine neue Geschichte an, und jede hat es in sich. Da gibt es die Teetanten, unverheiratete Schwestern, die das Mädchen Grazynka aufziehen, Schnäpse brennen, Sauerkraut einlegen und am Ende einen unvermeidbaren Mord begehen; es gibt den Dorffotografen Ludek Borowic, der Angst vorm Fotografieren hat, weil er den Tod auf Bildern kommen sieht; es gibt Tadeusz Kruk, den Friseur, der seine unterdrückten Gewaltfantasien in Majdanek ausleben kann. Es gibt die schwarze Krankenschwester Sara, die Dominika nach ihrem Unfall pflegt und die nach ihrer Vorfahrin, der Hottentotten-Venus, forscht; da ist die alte polnische Exilantin Eulalia Barron, die nur dafür lebt, um sich an das zu erinnern, was sie verloren hat. Erinnern ist das zentrale Thema der Romane Bators – wobei die Erinnerung durchaus verschiedene Aggregatzustände haben kann. Dominika selbst wird zwar von der Sehnsucht nach Erinnerung umgetrieben, aber verspürt keinesfalls den Wunsch nach Rückkehr an alte Orte. Verklärt wird Vergangenheit bei Bator nicht.
Dominika, Jadzia, ihre Schwiegermutter Halina, die selbst auf dem Sterbebett weiterraucht und das Fotoalbum mit den fehlenden Bildern, zu denen sie stets Geschichten erfunden hat, Dominika vererbt; sie alle sind ein Bruchteil des Romanpersonals, dessen Biografien sich zu Genealogien auswachsen und die alle irgendwo im Roman aufeinandertreffen. Es muss diese Ausrichtung auf die Zukunft gewesen sein, von der Bator in ihrem autobiografischen Text berichtet, dieses Gefühl von Geschichtsverlust und Orientierungslosigkeit im Nachkriegspolen, das in ihr dieses Bedürfnis nach Verortung ausgelöst hat.
„Wolkenfern“ ist der Versuch einer solchen Verortung; in der polnischen Geschichte, durch die genealogische, episodische Struktur einer komplexen Erzählung, die am Ende zu einem großen Ganzen zusammengebunden wird. „Wolkenfern“ enthält viele fantastische Elemente, die manchmal vor Erzähllust geradezu strotzen. Diese Lust am Geschichtenfinden oder -erfinden, so genau weiß man das nie, der oft ironisch-liebevolle Ton macht die Geschichtsschwere der Erzählung wieder wett.
Je mehr sich die Autorin allerdings der Gegenwart annähert, desto mehr verliert die Geschichte seltsamerweise an Glanz. Dabei besitzt Joanna Bator durchaus einen scharfen Blick für die Gegenwart, das Alltägliche. In New York wohnt Dominika auf einem Flur mit polnischen Arbeiterinnen, die ihre ganze Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat in Kisten und Kartons stopfen, nutzlose Dinge, die sie für ein anderes Leben aufheben, das sich nie einstellen wird. „Die Eigentümerinnen der Schachteln (…) würden da aber anderer Meinung sein, o nein, alles in diesen Kartons brauchen sie, die Kartons selbst brauchen sie und das Wissen, dass sie bald die nächsten packen werden.“
Zum Finale eine Sintflut
Amüsiert beschreibt Bator, was die Frauen in den Kartons horten, wie sie sich ihr Leben und den Flur verbauen. Schachtelliebhaberinnen wie die Autorin selbst, die am Ende des Romans ein Hochwasser Walbrzych heimsuchen und die einstige Minenstadt unter sich begraben lässt. Ein großartiges Finale, das damit versöhnt, das „Wolkenfern“ nicht ganz an seinen Vorgänger „Sandberg“ heranreicht. Jadzia befindet sich gerade auf einem Ausflug. „Sie schwimmen durch Dörfer und Wälder, über Felder, unter Wasser liegende Städte lassen sich ausmachen, nur die Fördertürme ragen hervor wie Skelette vorsintflutlicher Tiere; eine Sintflut, eine echte Sintflut, seufzt Jadzia und wundert sich über sich selbst, weil sie keine Angst hat.“ Esther Kinsky hat den Roman ins Deutsche gebracht, sie lässt die feine Ironie Joanna Bators in den Sätzen schwingen.
■ Joanna Bator: „Wolkenfern“. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Suhrkamp, Berlin 2013, 506 Seiten, 24,95 Euro