piwik no script img

Archiv-Artikel

Die ganze Bandbreite der deutschen Sprache

WETTBEWERB Beim 21. Open Mike lauschten die Scouts und lasen die literarischen Nachwuchskräfte. Die Stadträtin meinte, die Boheme und die ausgefeilte Sprache gehören zum Problembezirk Berlin-Neukölln wie die Sprachdefizite der Kinder, die hier zur Schule gehen

Sieht aus wie Prosa, hört sich an wie Lyrik, und der Autor trägt es vor wie einen dramatischen Monolog

VON CATARINA VON WEDEMEYER

„Der Himmel ist eine recht weitläufige Angelegenheit“, heißt es in einem der Gedichte von Maren Kames, und manchmal beginnt er eben genau dort, wo man gerade steht. Für die drei Gewinner des 21. Open Mike, Maren Kames, Dimitrij Gawrisch und Jens Eisel, beginnt er in Berlin im Heimathafen Neukölln, dem Veranstaltungsort des inzwischen fest etablierten Literaturwettbewerbs für den deutschsprachigen Nachwuchs. Die 1984 geborene Maren Kames war eine Überraschung, denn zum ersten Mal votierte auch die Publikumsjury für eine Lyrikerin. Im Gegensatz zu ihrem abergläubischen Kollegen Gawrisch hatte Kames zwar einen Text für die Preisverleihung vorbereitet – dass sie aber gleich zweimal auf die Bühne müsste, konnte auch sie nicht wissen.

Zwei Tage lang lasen die 20 Teilnehmer, die aus 700 Einsendungen übrig geblieben waren. Verletzliche Stellen wie die von einem Du, das Blautöne konjugiert, oder von Rotwein, der im Glas verblutet, sind selten. Das liegt auch am Format, schließlich lesen die Autoren vor einem 550 Menschen starken Publikum. Was hier passiert, ist Rock; das Stereotyp des Hinterzimmerschlurfers, der mit Feder bei Kerzenlicht schreibt, kann weg. Die Open-Miker sind zwischen 18 und 35 Jahre alt, sie bauen Facebook in ihre Texte ein, sie tragen Glitzerpullis und Lederjacken.

Er thomasmannt, er jandelt

Mit Dimitrij Gawrisch und Jens Eisel haben zwei Autoren gewonnen, die beide noch andere Sprachen sprechen außer Deutsch. Das klingt in ihrem Schreiben mit. Der Text von Gawrisch sieht aus wie Prosa, hört sich an wie Lyrik, und der Autor trägt ihn vor wie einen dramatischen Monolog. Und zwar im schweizerischen Dialekt, er ist erst in Kiew und dann in Bern aufgewachsen. Sein Erzähler schimpft über den Vortrag eines Freundes, der meint, er solle über „Mannweibliches oder Berlinerisches“ schreiben, sonst würden seine Leser „die Hirne über der Lektüre schwenken“. Ironisch reflektiert Gawrisch mit diesem Protagonisten seinen Beruf, er thomasmannt, er jandlt. Und vor allem spricht er mit einer so eigenen Stimme, dass die Blogger vom Open Mike begonnen haben, Texte von Gawrisch auf Deutsch zu übersetzen: „Dringlichkeitsvisite im Gewölbe“ heißt pissen gehen. Mit Verben wie „schnipfentisieren“ kulminiert der Text in einem avantgardistischen Experiment.

Jens Eisel, geboren 1980 und damit der älteste der drei Gewinner, leiht seine Stimme jemandem, der sonst keine hätte. Sein Protagonist Samir wettet auf Baseball, Boxkämpfe und Hunderennen. Seit Samirs Frau nach Bosnien zurückgegangen ist, lebt er in Stille. Nachts würde er sich gern mit den Anglern in Hamburg-St. Pauli unterhalten, aber er spricht schlecht Deutsch und schämt sich dafür. Die Erzählung endet mit den Ohren eines Windhundes, die sich beim Rennen auf und ab bewegen. Eine Lebensmetapher, denn Samir jagt dem Glück hinterher wie der Hund dem Ziel: ohne genau zu verstehen, wie das größere Ganze der Wette funktioniert.

Zu viele Genderklischees

Das größere Ganze des Open Mike jedenfalls funktioniert wie der Literaturbetrieb en miniature. So haben auch die anderen Autoren allein dadurch gewonnen, dass sie vor lauschenden Scouts, Verlegern und Agenten auftreten dürfen. Noch mischen die jüngeren Autoren zu viel Drama oder Genderklischees in ihre Texte, aber der ein oder andere spaziert, wenn schon nicht mit einem Preis so doch mit Vertrag aus dem barocken Gebäude des Heimathafens. Dass Eisel beim Piper-Verlag erscheint, war schon entschieden, bevor er den Wettbewerb gewann.

Welthaltigkeit ist das Stichwort. Zwischen so vielen Künstlern und hippen Brillen kann der Zuhörer vergessen, dass er mitten im Problembezirk Neukölln sitzt, der auch mit Kinderarmut und Integrationsproblemen in der Zeitung steht. Neukölln ist beides, sagt die Bezirksstadträtin Franziska Giffey. Die reiche Boheme und die ausgefeilte Sprache der jungen Autoren gehören inzwischen genauso zum Stadtteil wie die Sprachdefizite der Kinder, die hier zur Schule gehen. Man wartet auf den Tag, an dem genau diese Kinder ihre Geschichten erzählen.

Das würde auch gegen die Banalität vieler Einsendungen helfen. Von dem ganzen Liebesgeleier ist dem Lektor Christian Ruzicska vom Secession Verlag Zürich richtig schlecht geworden, sagt er. Aber er hat Glück gehabt, auf seinem Stapel lag nicht nur der Text von Gawrisch, in dem weder Liebe noch Sex vorkommen, sondern auch der von Paula Schweers. Die Bremerin, Jahrgang 1992, zoomt in ihrer Erzählung auf die Küste Frankreichs bis hinein in eine Wohnung, auf einen Schreibtisch und einzelne Fotografien.

Damit erschreibt sie auch formal das ideale Fraktal, um das es im Inhalt geht. Durch die Unendlichkeit der Ähnlichkeiten scheint der Missbrauch der Mutter noch unausweichlicher. Bei den Gedichten der doppelten Gewinnerin Kames hingegen handelt es sich um „Welten, die man gerne betritt“, so begründen die Juroren Jenny Erpenbeck, Raphael Urweider und Ulrich Peltzer ihre Entscheidung. Verse wie „verplempert im Tau / halb Taube halb Pfau“ stellen Bilder in den Vordergrund, andere den Klang: „Zigmal schwitzt du bis sich nichts / bewegt. Und x-mal drückst du dich du duckst dich rückwärts weg von dem / was zählt“.

Die Kames-Musik klingt ganz anders als ein Jens Eisel, bei dem die Sätze aus dem Inneren kommen und dann alle ein bisschen in der Luft hängen. Gawrisch hätte seinen Vortrag noch üben können, aber das tut er spätestens jetzt auf der Lesereise nach Wien, Bern und Frankfurt, wo die Gewinner noch diese Woche hinfahren. Alle drei bekommen außerdem 2.500 Euro, damit wollen sie schreiben. Aber Kames will noch mehr, sie will mit dem Geld nach Detroit. Auch da beginnt der Himmel.