: berliner szenen Ein Pop, viele Gesten
Unbedingte Entrücktheit
Wenn auf Konzerten Leute unterschiedlichster musikalischer Vorlieben zusammenkommen, um sich von anderen Leuten und deren Musikwelten wie auch immer rühren zu lassen, kollidieren des Öfteren die vielfältigen Referenzen im Popzitate-Wald. Besonders verwirrend sind Abende mit mehreren auftretenden Künstlern. Schnell kommt es etwa zu folgender Szene, die sich neulich auf dem „Haldern Pop Zelt“-Festival am Postbahnhof zutrug: Eine sehr verzweifelte amerikanische Jungmännerband mit James-Joyce-Verweisen und Texten, die von mindestens fünfzig Jahren persönlichem Lebensunglück erzählen, intoniert ihre Dramatik von der Bühne herab, während davor zwei halbwüchsige Mädchen mit geschlossenen Augen ebenso ernsthaft wie raumgreifend ihre langhaarigen Köpfe im Takt der Musik schütteln. Das Ohr hört poetischen Americana, das Auge sieht Metal-Headbanging. Man fragt sich, wo die beiden das herhaben und wie sie überhaupt entstehen, die Konventionen für das spezifische Verhalten zur jeweiligen Musik. Den Mädchen ist das mithin egal. Was zählt, ist unbedingte Entrücktheit, genau jetzt.
Es gibt eine Filmszene, die gerne zum Entkräften solcher Phänomene wie etwa der Beatlemania angeführt wird: Ein weiblicher Fan mit adretter Frisur sitzt im Publikum eines Beatles-Konzerts und schreit und weint sich buchstäblich die Seele aus dem beblusten Leib. Plötzlich fällt ihm die Handtasche vom Schoß. Die junge Frau verstummt augenblicklich, bückt sich, hebt das Accessoire auf und stellt es wieder an seinen Platz zurück. Dann reißt sie die Augen auf und kreischt erneut los. Keine Spur von hysterischer Willenlosigkeit, hier geht es allein um präzise eingesetzte und gesteuerte Gesten.
ANNE WAAK