: Spiel mit Gretchenfragen
Die Mutter, die sich immer einmischt, die Zensur und die Wünsche des Publikums: Nikolai Khalezin, Autor aus Weißrussland, beim Stückemarkt des Theatertreffens
„Gretchenfrage heute“ war das Thema des zweiten Autorentischs beim Theatertreffen. Die zum Stückemarkt geladenen Dramatiker Anders Duus (Schweden), Paul Jenkins (Großbritannien) und Nikolai Khalezin (Weißrussland) hatten eine Reihe von Fragen zu beantworten, in die sich das Leben des modernen Menschen aufzuspalten scheint: Windows oder Apple? Kind oder Karriere? Soccer oder Tennis? Das Publikum durfte raten, wer „Kapitalismus“ statt „Kommunismus“ angestrichen hatte.
Der immer noch nicht zugeschüttete Graben zwischen Ost und West zeigte sich mal wieder darin, dass es ausgerechnet Khalezin war, der „ausgeschert“ war, weil er nach so langer Zeit im Kommunismus gerne einmal etwas anderes erleben würde. In Weißrussland hat er praktisch Berufsverbot, weshalb er ein Underground-Theater gegründet hat, das im Wald auftritt oder in Privatwohnungen, deren Mieter anschließend Besuch vom KGB bekommen. Mitten in der Gegenwart stellt sich hier das Problem, das gerade in „Das Leben der anderen“ retrospektiv verhandelt worden ist: Zieht man es als Künstler vor, wenn der Staat einem das Gefühl vermittelt, für ihn so gefährlich zu sein, dass er sich die Mühe macht, einen zu verbieten? Oder lebt es sich besser in der Einsamkeit des indifferenten Kulturbetriebs?
Khalezin hat in einem selbst veranstalteten Theaterseminar 16 Tabus herausgearbeitet, über die man in Weißrussland nicht schreiben dürfe, wolle man gespielt oder im Radio gesendet werden. Dazu gehören Suizid, Alkoholismus, Zweiter Weltkrieg, Drogen, sexuelle Minderheiten. In seinem Stück „Ja prishel“ („Die Ankunft“) hat er auf diese Themen bewusst verzichtet. Es befasst sich auf rein poetischer Ebene mit Geburt, Leben und Tod eines exemplarischen Menschen. Das war ein Grund dafür, warum Wladimir Kaminer, der in der Jury des Stückemarkts für die Auswahl der russischen Kandidaten zuständig gewesen ist, dieses Stück bevorzugt hat, das einmal nicht die Unterdrückungsfolklore liefert, die sich der Westen gerne aus Osteuropa importiert. Generell war Kaminer aufgefallen, dass die deutschen Autoren, anders als die Russen, sehr bemüht zu sein scheinen, nahe an den von den Medien vorgegebenen Themen des Tages zu schreiben. Möglicherweise ist das auch nur Reflex auf die Nachfrage von Seiten der Theater. Den „Theatertreffen-Förderpreis für neue Dramatik“ bekam Thomas Freyer für sein Stück „Amoklauf mein Kinderspiel“, in dem es um Amok an einer ostdeutschen Schule geht.
In der Diskussion spürte man, dass die drei Dramatiker sich in Berlin näher gekommen sind – man wohnt im selben Hotel und trifft sich dort zu einer täglichen „Frühstückskonferenz“. In solchen simplen Effekten liegt sicher ein Reiz für die Autoren des Stückemarkts. Im „Haus der Berliner Festspiele“ drängte sich das Publikum vor den Türen, um zur szenischen Lesung von „Ja prishel“ eingelassen zu werden. Zur Begrüßung gab es für jeden einen Schluck Wodka.
Im Stück begleiten wir einen Mann durch verschiedene Lebensabschnitte. Er muss sich mit seiner Mutter auseinander setzen, die sich in sein Leben einmischt und ihn belehrt: „Mit dem Alter braucht man die Eltern immer mehr, vor allem, wenn man selbst Kinder bekommt.“ Als sie stirbt, kommt er zu der Erkenntnis: „Solange deine Eltern noch leben, bist du ein Kind.“ Die eher undramatische Form mit einem gewissen Hang zum Resümieren von Lebensweisheiten stellt dramaturgisch natürlich Probleme, die zu lösen freilich nicht Aufgabe dieser eher spontan wirkenden szenischen Lesung war. Samuel Finzi sprach mit freundlich an Spejbl und Hurvinek erinnerndem Akzent den russischen Jedermann, Astrid Meyerfeld nutzte jede Gelegenheit, um den Text mit ein bisschen Volksbühnen-Hysterie aufzuladen.
Die Gretchenfrage, ob es besser ist, der Zensur eines Diktators zum Opfer zu fallen oder der des Publikumsinteresses in einer Aufmerksamkeitsökonomie, möchte man für Khalezin nicht beantworten müssen.
JOCHEN SCHMIDT