: Heimat, Überwältigung und Olivenöl
FAMILIE Dorfgeschichten, absurde Wendungen, große Liebe – ein wonnevoller Sinnesschwindel ist in diesen Beschreibungen: Gaetano Cappellis barock prunkender Roman „Ferne Verwandte“
VON DANIELA ZINSER
Ob es klug ist, einen Heimatroman zu lesen fernab von allem, was man selbst Heimat nennen würde? Eine schwüle Süditaliengeschichte kurz vor dem Polarkreis, wo sie den ersten Sommertag bei einem Grad plus feiern? Natürlich spielt es eine Rolle, wo man was liest, und bei all diesen Gegensätzen findet man die Lektüre entweder grausam oder wunderbar. Und heilsam.
Mit all der klaren Kühle in Farben, Formen und Menschen ist Island reinster Protestantismus – und Gaetano Cappellis Roman „Ferne Verwandte“ ist die Gegenreformation. Deren Kunst, Glaubenmachen durch Überwältigung, beherrscht der 56-jährige italienische Autor perfekt. Die Geschichte, die er auf mehr als 500 Seiten niederschreibt, ist purster Barock. Nur deshalb wirkt selbst das absurdeste Erlebnis seines Protagonisten Carlo, genannt Carlino, di Lontrone, plausibel.
Carlino wächst als Waisenjunge in einem süditalienischen Dorf auf, mit unzähligen Cousinen, Onkeln und Tanten im Haus seiner Großmutter Nonnilde, der Matriarchin, die herzlos regiert über den Olivenöl-Produktionsbetrieb und die Großfamilie: „Klein, knochig und mit abstehendem, von schwarzen Strähnen durchzogenem Silberhaar tigert sie wie eine Wildkatze durch die stillen großen Zimmer, eine faszinierende Tscherkessenkönigin mit räuberischen Krallen, die in einem fort die Perlen ihrer Ketten malträtieren, und flinken, bohrenden Augen unter finsteren Brauen. Mit einem einzigen Blick kann sie ihr Gegenüber vernichten.“
Von ihr bleibt Carlino, als einziger männlicher Enkel, erst verschont. Dann hält sie ihn nach mancherlei Verwicklungen im Haus fest, und er erschafft sich, in der riesigen alten Villa im Zimmer mit den gotischen Fenster und all den Devotionalien verstorbener Verwandter seine eigene Welt – mit Büchern und dem Traum von Amerika. Dort lebt der fabelhaft reiche Bruder der Großmutter, der Carlinos Vater bereits zu sich nahm.
Amerika, darauf lebt Carlino zu; und so blättern sich die Jahre dahin, die Sechziger, Siebziger, fast auch die Achtziger. Carolino wird Beatnik, Hippie und ein bisschen Punk, er fährt nach Capri, Rom und Kopenhagen, probiert Drogen, wird Schüler des Organisten, des Dorfhistorikers, der einsamen Wirtin in der Schenke. Er will Musiker werden, Historiker, nein: Schriftsteller. Er bekommt, und weiß selbst nicht, warum, jedes Mädchen, Touristin wie Schulfreundin, jede verheiratete Frau – eine um die andere wird ihm zum Verhängnis. Geliebt wird hier heftig, auf dem Friedhof, im Kneipenkeller, unter zur Hilfenahme von Reliquien und reichlich Fantasie.
Einen wonnevollen Sinnesschwindel beschwören die Beschreibungen. Schwülstig ist das, aber so voller Ideen und Geist. „Ferne Verwandte“ wird bereits gefeiert als der große süditalienische Familienroman. Die Lektüre ist wie ein Abgehen alter Gemäldegalerien, barocke Hängung, natürlich. Alles, egal, ob groß, ob klein, hängt übereinander, nebeneinander, durcheinander: die Charakterisierung der Freunde, die Beschreibung der großen Liebe und die der reifen Frau zwischendurch, die Dorfgeschichte, die absurdesten Wendungen und die Passagen über Musik, dem Klang der Sphären, Carlinos Inspiration und wohl auch die Cappellis, das Buch widmet er seiner Mutter und dem Komponisten Harold Budd.
Doch hinter all dem Beschreibungsprunk lauern kühlklare Analysen. Nie versinkt Carlino in Selbstmitleid, vielmehr ist sein Blick der eines vernünftig Liebenden, in allem. Drogen, Sex und der erfüllte Traum Amerika, der natürlich so ganz anders ist als vorgestellt, er macht das Beste daraus, wurschtelt sich durch – und lernt.
Auch der Leser lernt – etwa, was ein süditalienisches Dorf zu einem süditalienischen Dorf macht. Mit der Mafia hat das übrigens gar nichts zu tun. Die lernt Carlino erst in Amerika kennen. Und wenn es manchmal nur ein Satz ist, der genügt, ein Buch zu lieben, so sind es in diesem Roman die gut zehn Seiten, auf denen Cappelli das Dorf beschreibt: die junge Postangestellte, die verzweifelt auf ihre Versetzung wartet, das halbe Dutzend Kirchen, zwei davon mit rivalisierenden Priestern, die Magierin, die in der Nähe des Friedhofs wohnt, die Burg aus der Zeit der Normannen, den Schmied, fast immer der fanatischste Fußballfan, den Kriminellen, der natürlich zugewandert ist – und und und. Es ist herrlich.
Zweierlei nur ist übertrieben in diesem Überfluss: die vielen Vorausdeutungen, die Cappelli in den Text streut, ein Dauerunken, das irgendwann ermüdet. Und dass die deutsche Übersetzung etwas zu sehr den süditalienischen Dialekt nachahmt, mit „Isser“, „ham“ und „der tut dieses tun“. Denn längst hat der Leser auch so verstanden, dass es hier um Heimat geht. Um das Paradox, immerzu weg und doch stets zurückkehren zu wollen. Doch manchmal – und das ist der Trost – findet man, an unerwarteter Stelle, Heimat.
■ Gaetano Cappelli: „Ferne Verwandte“. Aus dem Italienischen von Sylvia Höfer. C. Bertelsmann, München, 2010. 512 Seiten, 22,95 Euro