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Archiv-Artikel

Ohne Netz

„Töchter, Talmud, Tore“: Das rasante Motto des 12. Jewish Film Festival wird von seinem Frankreich-Schwerpunkt wieder etwas ausgebremst: Hier hat jüdische Identität sehr viel mit Einsamkeit zu tun

Jenseits von Tradition und religiöser Praxis bleibt nur einsames Dissidententum

VON JAN-HENDRIK WULF

Pünktlich jeden Abend um sieben macht es die Philosophiestudentin Laura wie Immanuel Kant: Sie dreht eine einsame Spazierrunde durch ihr Viertel. Das allerdings liegt nicht in Königsberg, sondern im Pariser Banlieu Sarcelles. Dass die Protagonistin in Karin Albous Spielfilm „La petite Jérusalem“ (Frankreich 2005, 94 min) Jüdin ist und gemeinsam mit ihrer aus Tunesien tief religiösen Familie auf engstem Raum in einer Sozialwohnung lebt, macht diesen ihre einsame Gewohnheit zum Problem.

Denn Mutter und Schwester verfolgen Lauras vergeistigtes Einzelgängertum mit dem allergrößten Missvergnügen und brächten das Kind am liebsten schleunigst unter die Haube. Doch auch der orthodox-familiäre Gegenentwurf zu Lauras intellektuellem Emanzipationsstreben zeigt bald deutliche Risse. So lebt ihre Schwester Mathilde in der ständigen Furcht, beim ehelichen Sex gegen die religiösen Gebote zu verstoßen. Erst als sie ein blondes fremdes Frauenhaar am Jackenaufschlag ihres Ehemanns entdeckt, beginnt bei ihr ein Prozess des Umdenkens. Umgekehrt scheint ausgerechnet ein magisches Liebesamulett, das Laura heimlich von der Mutter unter die Matratze geschoben wird, eine durchschlagende Wirkung zu entfalten: Laura verliebt sich in den algerischen Journalisten Djamel – einen jungen Muslim ohne Aufenthaltspapiere.

Unter dem Titel „Töchter, Talmud, Tore“ beginnt heute das 12. Jewish Film Festival. Unvermeidlich ist dabei die Anspielung auf die kommende Fußball-WM: Ihretwegen findet des Filmfestival in diesem Jahr einige Wochen früher als gewöhnlich statt, denn wenn im Juni auf dem Potsdamer Platz die Großbildschirme aufgestellt werden, legt das Arsenal wegen des dann erwarteten Zuschauerschwunds eine Betriebspause ein. Doch vorher wird es noch eine lange Nacht des israelischen Fußballs geben, in deren Beiträgen es, wie bei dieser Sportart allgemein üblich, um Fan-Geschichten, Machotum, Gewalt und Rassismus gehen wird.

Rund ein Viertel der insgesamt 20 neuen Filme des Festivalprogramms stammt in diesem Jahr aus Frankreich, dem Land mit der größten jüdischen Gemeinde Europas. In der weitgehend laizistischen, deshalb aber längst nicht konfliktfreien französischen Gesellschaft wird jüdische Identität oft nur noch in den traditionellen Strukturen von Familie und religiöser Praxis sichtbar. Was die diesjährigen Beiträge aber zeigen wollen, ist das noch weniger Sichtbare, in dem Menschen leben, die auch darin kein tragfähiges Auffangnetz mehr finden. Ihnen bleibt oft nur ein unartikuliertes Dissidententum – zwischen Privatheit und Öffentlichkeit und ganz vor allem eins: einsam.

So wird auch in „La première fois que j’ai eu 20 ans“ (Regie: Lorraine Lévy, Frankreich 2004) die Familie als ein zweifelhaftes Refugium gezeichnet. „Deine Augen sind schön“ – diesen vernichtenden Trost bekommt die übergewichtig pubertierende Hannah Goldman von ihrer Mutter zu hören. Doch trotz allen Selbsthasses beginnt Hannah einen einsamen Kampf mit der Außenwelt: Als allererstes Mädchen möchte sie in die Jazzband ihrer Schule aufgenommen werden. Natürlich ist Hannah bei der Aufnahmeprobe die Beste. Aber als sie dann trotzdem von ihren ausschließlich männlichen Bandkollegen gemobbt wird, läuft sie zu voller Größe auf und findet trotz Brille und Übergewicht schließlich auch Anerkennung und erste Liebe.

Als Erinnerung und vielleicht auch als Reflex auf eine Gegenwart, die nur wenig traditionalistischen Halt bietet, ist dagegen Richard Dembos Doku-Spielfilm „La Maison de Nina“ (Frankreich 2005, 109 min) zu verstehen. Der Regisseur beleuchtet hier ein in Deutschland nur wenig bekanntes Kapitel aus dem Frankreich der Nachkriegszeit: In alten Herrenhäusern, die von Wohltätigkeitsorganisationen zu familiär geführten Kinderheimen umfunktioniert wurden, sollten die während der deutschen Besatzung versteckten Kinder deportierter Eltern auf die Rückkehr in ein halbwegs normales Leben vorbereitet werden.

So auch eine Gruppe völlig verwahrloster und traumatisierter Kinder aus dem befreiten Buchenwald. Über ihr Eintreffen erzählt der Film mit viel Sympathie und noch mehr Mut zum Sentiment, wie für Menschen, die alles verloren haben, gerade das Befolgen strenger orthodoxer Regeln zur einzigen Möglichkeit wird, mit der ausgelöschten Herkunft in Kontakt zu bleiben und zu einer Identität zurückzufinden.

Doch hier beginnt auch die filmische Fiktion: Dass durch die Résistance kommunistisch geprägte französische Kinder, deren Arbeiterlieder im Laufe des Film immer leiser werden, und osteuropäische Kinder aus Buchenwald, deren Gebete immer mehr anschwellen, aufeinander trafen wie in diesem Film, ist unwahrscheinlich – Kinder unterschiedlicher Herkunft wurden damals auf unterschiedliche Heime verteilt.

Dass sich die Sehnsucht nach der verlorenen Herkunft auch zu einem lukrativen Geschäftszweig ausbauen lässt, zeigt Pawel Lungins Spielfilm „Familles à vendre“ (Russland/Frankreich 2005, 104 min). Mit sexuellen Verführungskünsten und einer Hand voll Dollars gelingt es dem ehemaligen Reisebüroangestellten Eduard, sich die Bewohner von Golotvine gefügig zu machen. Er verwandelt das hoffnungslos verfallene ukrainische Nest mit dem stillgelegten Betonwerk in eine Erinnerungskulisse für zahlungskräftige Juden aus dem Westen. Doch als die ersten Touristen eintreffen, gerät Eduards mühsam arrangierte Erinnerungslandschaft schnell völlig aus den Fugen. Am Ende fliegt Golotvine als Schwindel auf – und trotzdem finden die Vergangenheitstouristen, was sie glücklich macht: die Erkenntnis, allein zu sein auf der Welt.

18.–28. 5. im Kino Arsenal am Potsdamer Platz; 29., 30. & 31. 5. im Filmmuseum Potsdam; Programm unter www.jffb.de