: Protestlieder und Machtbesoffenheit
CANNES CANNES 9 „Carlos“, Olivier Assayas’ sehr sehenswerter Film über den internationalen Topterroristen, lief außer Konkurrenz – leider
Nora von Waldstätten trägt ein goldenes, schulterfreies Kleid, als sie die Stufen zum Grand Théâtre Lumière hinaufsteigt. Die Berliner Schauspielerin hat eine Hauptrolle in „Carlos“ von Olivier Assayas; sie gibt Magdalena Kopp, eine linke, militante Deutsche, die den aus Venezuela stammenden, international agierenden Terroristen 1979 heiratete. Als sich Nora von Waldstätten nach der Premiere von ihrem Platz erhebt, während das Publikum applaudiert, trägt sie ein schwarzes, ebenfalls schulterfreies Kleid. Der Kleidertausch passt gut zur Rolle, denn die Magdalena Kopp des Films legt viel Wert auf ihre Garderobe. Sie trägt die schärfsten Stiefel, die am tiefsten geschlitzten Kleider und die durchsichtigsten Blusen.
„Carlos“ ist ein Fernsehfilm in drei Teilen, insgesamt dauert er fünf Stunden und 33 Minuten. Weil es sich um eine Fernsehproduktion handelt, lief „Carlos“ außer Konkurrenz, nicht im Wettbewerb. Das ist schade, weil der venezolanische Schauspieler Edgar Ramírez, der die Hauptfigur verkörpert, so um die Chance gebracht wird, einen Darstellerpreis zu gewinnen. Es ist auch deshalb schade, weil Assayas das Kunststück gelingt, das Anspruchsvolle mit dem Eingängigen zu verbinden.
„Carlos“ genügt allem, was eine populäre Erzählung ausmacht. Man langweilt sich in keinem Augenblick der fünfeinhalb Stunden, der Film hat viele Schauwerte, einen treibenden, geschickt eingesetzten Soundtrack und eine bemerkenswerte Besetzung (Julia Hummers Auftritt als furchtlose, brutale Geiselnehmerin verdient besondere Beachtung). Es gibt eine Menge Action, Schießereien, großkalibrige Waffen, schnelle Autos und viele Ortswechsel, kurz: alles, was gute Unterhaltung verspricht. Zugleich gibt es eine skeptische Perspektive auf diesen Mann, der 1949 als Ilich Ramírez Sánchez in Caracas zur Welt kam und 1997 vor einem Pariser Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, auf seinen Größenwahn, seine politischen Idiotien, seine Brutalität und seine Machtbesoffenheit. Assayas weiß zudem, dass er über eine so schillernde Figur nicht die Wahrheit erzählen kann. Zu viele widerstreitende Versionen des Terrorismus der 70er- und 80er-Jahre gibt es, als dass „Carlos“ etwas anderes als eine Fiktion anbieten könnte – und genau daraus macht er keinen Hehl.
Worauf sich der Regisseur außerdem versteht, ist die mise en scene. Bemerkenswert, wie viel Mühe und Zeit er darauf verwendet, den Überfall auf die Opec-Konferenz in Wien im Dezember 1975 zu inszenieren. Oder die Sequenz, in der drei Polizisten die Wohnung einer Geliebten Carlos’ ausfindig machen. Nachdem sie nach den Pässen gefragt haben, geht der Überblick verloren, die Kamera schaut sich aus relativer Nähe die Oberkörper der Figuren an, nicht ihre Köpfe, sie verwehrt die Orientierung im Raum. Die Situation wird eskalieren, doch vorher lässt sich Assayas Zeit, die Partygäste spielen noch einmal die Gitarre, singen lateinamerikanische Protestlieder, einer der Polizisten trinkt einen Whisky und kommentiert die linksradikalen Plakate an den Wänden des Zimmers: „Sie machen ja keinen Hehl aus Ihren politischen Überzeugungen.“ CRISTINA NORD