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dvdeskReichtum der Reduktion

So aufregend kann deutsches Kino sein: Angela Schanelecs vierter Film „Marseille“

Wenn erzählen heißt: Zusammenhänge herstellen und erklären, dann ist Angela Schanelec keine Erzählerin. Ihr geht es, im Gegenteil, um das Offenlassen. Ihre Filme produzieren kein Wissen, nicht über Figuren, Orte, Beziehungen. Sie zeigen, sie verweilen auf Figuren und an Orten, sie beobachten Menschen beim Sprechen und Schweigen, beim Arbeiten und Tanzen. Aber sie erklären uns nicht, was wir sehen.

„Marseille“, Schanelecs vierter Spielfilm, übt, entschiedener noch als der Vorgänger „Mein langsames Leben“ (2001), Verzicht aufs Herkömmliche des Erzählkinos. Er stellt nur fest: Hier ist Sophie (Maren Eggert), sie ist in Marseille, in Berlin, wieder in Marseille. Hier sind ihre Freundin Hanna (Marie-Lou Sellem) und Hannas Mann Ivan (Devid Striesow) und ihr Sohn Anton (Louis Schanelec). Das erste Bild versetzt Sophie und uns mitten hinein, aber nicht in eine Geschichte, sondern an einen Ort: Marseille. Es ist bezeichnend, dass die erste Figur, die wir sehen, bald darauf aus dem Film verschwindet. Sie tauscht mit Sophie das Zimmer, aber sie taucht, das erfahren wir später, in Berlin nie auf. Mehr wissen wir nicht.

Vierzig Minuten lang beobachten wir Sophie in Marseille. Sie geht, fotografiert, lernt einen Mann (Alexis Loret) kennen. Es ist Tag, es ist Nacht. Lose beginnen sich die Figuren zu etwas zu verknüpfen, das einer Geschichte ähnelt, aber dann folgt ein Schnitt, und Sophie ist zurück in Berlin. Schanelecs Kino verzichtet, soweit es im Rahmen des Spielfilms geht, auf Narration; ihre insistente Beobachtung produziert weder ein Wissen über psychologische noch über gesellschaftliche Zusammenhänge.

Ungeduldige fragen: Was bleibt? Der Reichtum der Reduktion; der Reichtum der Offenheit dieses Blicks; der Reichtum der Wahrnehmung der Welt, bevor die Wahrnehmung zu Wissen und Urteil verklumpt. Es geht um die Einklammerung oder die Suspension unserer natürlichen Einstellung, die immer einen Namen und eine Erklärung hat für das, was man sieht, was geschieht. Aber man täusche sich nicht: Diese Einklammerung bedarf einer großen formalen Anstrengung, der Verzicht auf die Konvention ist nichts, das einem einfach so unterläuft. So verweigern Schanelec, ihr Kameramann Reinhold Vorschneider und ihre Schnittmeisterin Bettina Böhler grundsätzlich die übliche Auflösung einer Szene in Schuss und Gegenschuss. Jedes neue Bild ist ein unbekanntes Bild. In einer Sequenz sieht man den Fotografen Ivan bei der Arbeit. Oder besser: Man sieht die Frauen, die er fotografiert, und hört seine Stimme aus dem Off.

Obwohl die Konvention mit aller Macht danach verlangt, schneidet der Film nicht um auf ihn, verharrt stattdessen in immer derselben Einstellung auf der Frau, die fotografiert wird. Schanelec macht es sich und dem Betrachter nie leicht, und man muss ihre unbeirrte Kompromisslosigkeit bewundern. Etwas vermisst man bei ihren jüngsten Filmen dennoch: jene Leichtigkeit, die ein frühes Werk wie „Ich bin den Sommer über in Berlin geblieben“ (1994) noch besaß.

Die Edition dieser DVD beruht auf einer Initiative der Filmzeitschrift Revolver, zu deren Herausgebern die selbst mit exzellenten Filmen hervorgetretenen Regisseure Benjamin Heisenberg („Schläfer“) und Christoph Hochhäusler („Falscher Bekenner“) gehören. Ihnen ist das Kino von Angela Schanelec ein wichtiges Vorbild. Das aktuelle Heft von Revolver bietet DVD-begleitend ein großes Interview mit der Regisseurin und ihrem Kameramann. Auch wenn die Preise weiterhin die Filme der anderen gewinnen: Hier ist das wirklich aufregende Kino aus Deutschland.

EKKEHARD KNÖRER

Die DVD ist bei der Filmgalerie 451 erschienen und kostet rund 15 €

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