„Der Druck aus den USA war entscheidend“

Der Historiker Ulrich Herbert begrüßt die Freigabe der Arolsen-Akten – und fürchtet, dass sie für die NS-Forschung zu spät kommt

taz: Herr Herbert, was bringt die Öffnung des Arolsen-Archivs für die NS-Forschung?

Ulrich Herbert: Viel. Es geht um personenbezogene Akten von KZ-Häftlingen – und um Akten über die innere Struktur von KZs. Viele dieser Akten gibt es nur in Arolsen. Deshalb war die internationale Historikerzunft schon seit vielen Jahren emsig bemüht, diese Bestände anschauen zu dürfen. Das wurde aber stets verwehrt.

Und warum ist das jetzt anders?

Weil US-Institutionen politisch und moralisch Druck gemacht haben – was ich richtig finde. Und dieser Druck war so groß, dass die deutsche Seite nachgeben musste.

Der Leiter des Holocaust Memorial Museums in Washington hat gesagt, die Akten in Arolsen wegzusperren sei eine „Art der Holocaust-Leugnung“. Brauchte es solche Holzhammer-Rhetorik, um etwas in Gang zu bringen?

Das weiß ich nicht. Auf jeden Fall war hilfreich, dass das Holocaust Museum sich um die Akten gekümmert hat. Die Historiker haben immer gesagt, dass die Akten zur Erforschung der KZs notwendig sind. Aber das hat nichts bewirkt.

Warum eigentlich nicht?

Der Protest der Historiker wurde als eine Art Berufsproblem abgehakt. Außerdem hat der ITS Arolsen stets argumentiert, dass er ein Suchdienst und kein Archiv sei. Obwohl sich die Rolle des Suchdienstes seit den 80ern erledigt hatte, wollte der ITS nicht zum Archiv werden. Denn dann wäre der Personalbestand nicht mehr zu halten gewesen.

Die Akten blieben also wegen des Eigeninteresses des ITS unter Verschluss?

Ja. Der Widerstand richtete sich dagegen, von einer operativen in eine archivarische Institution umgewandelt zu werden – so ähnlich, wie es auch mit der Birthler-Behörde irgendwann passieren wird. Vielleicht stießen die Versuche der Historiker, das Archiv zu öffnen, deshalb beim ITS auf so taube Ohren. Denn der Historiker kommt ja, wenn eine Institution nicht mehr lebt. Er ist gewissermaßen der Bestatter, der auftaucht, wenn die aktuelle Rolle einer Institution ausgespielt ist.

Und damit wollte sich der ITS nicht abfinden?

Ich vermute das. Anfang der 90er-Jahre hat der ITS über die russische Organisation Memorial den Zugriff auf hunderttausende von Briefen von ehemaligen Zwangsarbeitern bekommen. Da war der ITS, sonst eine äußerst gemächlich arbeitende Institution, plötzlich höchst engagiert und hat sich sofort Kopien der Briefe besorgt. Warum? Weil er damit wieder eine Funktion als Suchdienst spielen konnte.

Der ITS hat den Aktenverschluss stets mit Datenschutz begründet. Zu Recht?

Nein. Es gibt klare gesetzliche Regelungen, die zum Beispiel den Umgang mit Akten der Zentralstelle für NS-Verbrechen in Ludwigsburg regeln. Das Gleiche soll auch für Arolsen gelten.

Eine völlige Freigabe der Akten halten Sie also für falsch?

Ja. Die Idee, hunderttausende von Opferakten ins Netz zu stellen, ist abwegig. Es geht doch um schützenswerte Daten. Darin kann durchaus etwas über sexuellen Vorlieben stehen – das hat in der Öffentlichkeit nichts verloren.

Wird die Öffnung von Arolsen die NS-Geschichtsschreibung verändern?

Es ist erst mal schade, dass die Öffnung so spät kommt. Denn viele wichtige Arbeiten der KZ-Forschung mussten in den 90er-Jahren ohne diese Daten verfasst werden. Ob es nun ein zweite Welle von Publikationen zu KZs geben wird, das scheint mir angesichts des nachlassenden öffentlichen Interesses an NS-Forschung fraglich zu sein.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE