Im Gefängnis der Rezeption

NACHRUF Die Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing gilt als Autorin von Frauenliteratur. Ihr Tod könnte einen neuen Blick auf ihr Werk ermöglichen

Obschon Lessing 2007 – später als erwartet – der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, blieb sie mit dem Label „Frauenliteratur“, das die Kritiker ihr anhängten, stigmatisiert

VON JÖRG SUNDERMEIER

Die spätere Schriftstellerin Doris May Tayler heiratete zunächst einen Herrn Wisdom, dann einen Herrn Lessing, sie nahm dabei den jeweiligen Namen ihrer Gatten an. Beide Namen waren sicher nicht der Grund für ihre Ehen, doch waren die Namen gut gewählt. Denn Weisheit hatte Doris Lessing recht früh erworben, und mit dem Namen des deutschen Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing verbindet man die Kunst, Weisheit praktisch anzuwenden – was der Autorin bald auch gelang. Und so wurde sie weltberühmt.

In Kermanschah im heutigen Iran erblickte am 22. Oktober 1919 Doris, die Tochter von Alfred und Emily Tayler, das Licht der Welt. Die Tochter britischer Staatsbürger zog 1925 mit ihren Eltern weiter in die britische Kolonie Südrhodesien, dem heutigen Simbabwe. Der Vater, ein Offizier, der im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren hatte, erwarb dort Land, die Farm warf allerdings keine großen Gewinne ab. Doris, die in der Hauptstadt Salisbury (heute Harare) zur Schule ging, zog daher bereits mit 15 Jahren aus dem Elternhaus aus, um zunächst als Kindermädchen, dann als Telefonistin zu arbeiten. Sie las bereits in ihrer Pubertät politische und gesellschaftskritische Literatur und veröffentlichte auch erste Kurzgeschichten in Magazinen.

Von Afrika nach London

1937 heiratete sie ihren ersten Mann, Frank Wisdom, von dem sie sich sechs Jahre später scheiden ließ. Im Jahr darauf ehelichte sie den deutschen Kommunisten Gottfried Lessing, von dem sie sich 1949 trennte (und der 30 Jahre später bei einer Rebellion gegen Idi Amin in Uganda ermordet wurde). Daher war sie für kurze Zeit die Tante von Gregor Gysi, dessen Mutter eine geborene Lessing war.

Mit Wisdom hatte sie zwei Kinder, mit Lessing eines. Das letztgeborene Kind, ihren Sohn Peter, nahm sie kurz darauf mit nach London, die Kinder aus erster Ehe blieben bei ihrem Vater. Später sagte Doris Lessing, sie habe lange geglaubt, sich absolut richtig verhalten zu haben: „Es gibt kaum etwas Langweiligeres für eine intelligente Frau, als unendlich viel Zeit mit ihren kleinen Kindern zu verbringen. Ich glaubte, nicht die richtige Person zu sein, um sie aufzuziehen. Ich wäre als Alkoholikerin geendet oder wie meine Mutter als frustrierte Intellektuelle.“ Mit ihrem Sohn Peter allerdings, der erst vor wenigen Wochen starb, lebte sie bis zuletzt zusammen.

Doris Lessing ließ Afrika hinter sich, um in London als Schriftstellerin zu arbeiten und sich als Kommunistin zu bewähren – erst 1956, nach dem Aufstand in Ungarn, verließ sie die Kommunistische Partei.

1950 erschien ihr erstes Buch, „The Grass Is Singing“ (auf Deutsch 1980 unter dem Titel „Afrikanische Tragödie“ erschienen). Dieser Roman prangert bereits die rassistischen Zustände in Afrika an. Der Roman beginnt mit einem Zeitungsartikel, in dem mitgeteilt wird, dass die zur weißen Oberschicht gehörende Mary Turner von einem schwarzen Arbeiter auf ihrer Farm ermordet worden sei. Dann erfahren wir, wie es dazu gekommen ist – und erleben eine Mary Turner, die alles andere ist als ein wehrloses Opfer. Denn im Gegensatz zu ihrem Mann Dick, der die Farm nicht nur unter ökonomischen Prämissen betreibt, schindet Mary die schwarzen Arbeiter auf der Farm bestialisch. Dass Lessing in diesem Buch, die postkolonialistische Literatur gewissermaßen vorwegnehmend, eine Frauenfigur auch derart negativ zeichnete, war ungewöhnlich, brachte ihr allerdings glänzende Kritiken ein.

Keine biedere Narration

Auch nachdem sich Lessing vom Stalinismus losgesagt hatte, beschäftigte sie sich mit dem Kommunismus. Ihr wohl berühmtester Roman „The Golden Notebook“ („Das goldene Notizbuch“) von 1962 präsentiert in kühner Form und unter Verzicht auf die klassisch-biedere Narrationsform die Geschichte von Anna Wulf, die ihr Leben zu ordnen versucht, indem sie vier Notizbücher zu einem fünften, dem „goldenen“ zusammenfasst. In den Notizbüchern findet sich ein begonnener Roman, der von einer Affäre Annas handelt, auch ihre Erfahrungen in Afrika und in der Kommunistischen Partei werden thematisiert. Und schließlich gibt es noch ein Notizbuch, in das Stimmungen und Träume eingetragen wurden. Dieses literarische Puzzle war derart mitreißend, dass sich viele Leserinnen und Leser, insbesondere aber Feministinnen, von Lessings Roman bestätigt sahen.

Die feministische Rezeption aber missbehagte Lessing sehr, noch im hohen Alter verteidigte sie das Buch gegen eine einseitige Vereinnahmung, Lessing wollte – wie auch Irmtraud Morgner – die Befreiung der Frau nicht ohne die Befreiung des Mannes durchführen, und sie bekämpfte Rassismus und totalitäre Regierungen ebenso wie den Sexismus.

Konventionelle Romane

Zu ihren weiteren wichtigen Werken gehören die Pentalogien „Children of Violence“ (1952–1969) um die Figur Martha Quest und „Canopus in Argos“ (1979–1983), letztere Serie bezeichnete sie selbst als Hauptwerk. Schließlich hat sie rund 25 oft sehr konventionell geschriebene, manchmal geradezu kitschige Romane veröffentlicht, zuletzt „The Cleft“ (2007) und „Alfred and Emily“ (2008), hinzu kamen Libretti, Dramen, Katzenbücher, Short Storys und Essaysammlungen.

Doch obschon Lessing 2007 – später als erwartet – der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, blieb sie mit dem Label „Frauenliteratur“, das die Kritiker ihr anhängten, stigmatisiert. Selbst der Nobelpreis wurde ihr ausdrücklich allein für ihr feministisches Engagement verliehen (sie war übrigens die elfte Frau in einer langen Reihe von Preisträgern). Lessing kommentierte dies mit dem ihr eigenen Humor: „Ich habe alle europäischen Preise gewonnen, jeden verdammten, und bin erfreut, nun wirklich alle erhalten zu haben. Es ist ein Royal Flush.“

Anders als der Titel „Prisons We Choose to Live Inside“ – so hieß eine ihrer Essaysammlungen von 1987 – nahelegt, konnte sie schließlich das Gefängnis, in das sie die literarische Kritik und die feministischen Ideologinnen gezwängt hatten, nicht mehr verlassen. Ihr Tod (dem sie gelassen entgegensah), der eben auch ihr Schweigen mit sich bringt, wird der Welt vielleicht ein neues Urteil über ihr Werk erlauben. Sterben werden ihre wichtigsten Werke indes nicht.