: Mit Mut gegen das Chaos
In der libyschen Hauptstadt halten bewaffnete Milizen de facto die Macht. Zivile Aktivisten wollen sich mit der Willkür nicht abfinden
ABDULFATAH MILAD, AKTIVIST
AUS TRIPOLIS MIRCO KEILBERTH
„Schau dir das an, schau dir das an!“ Mohamed rüttelt am Lenkrad seines verbeulten Toyota. Das Taxi im für Tripolis typischen Schwarz-Weiß schaukelt. Schließlich drückt der 30-Jährige auf die Hupe und stimmt ein ins Hupkonzert der ineinander verkeilten Autos um ihn herum.
Der Grund von Mohameds Zorn ist der Mann mit der Kalaschnikow auf der Straßenkreuzung vor ihm. Ein Uniformierter irgendeiner Miliz. Sichtlich überfordert, versucht er den Verkehr zu regeln. Zwei unbewaffnete Verkehrspolizisten in schneeweißer Uniform sitzend rauchend in ihrem Wagen ein paar Meter weiter. Auf sie richtet sich der Zorn der im Schneckentempo vorbeiziehenden Fahrer.
„Ich war vier Jahre auf der Polizeiakademie, und der Typ auf der Kreuzung war höchstens Hilfsarbeiter“, ruft Mohamed dem lachenden Fahrer im Nachbarwagen zu. Er ist sichtlich unzufrieden mit seinem Job als Taxifahrer, doch als Polizist traute er sich bisher nicht auf die Straße. „Die Milizen halten uns für Gaddafi-Leute.“
Acht Kilometer lang stauen sich die zahlreichen neuen Toyotas auf der Omar-Mukhtar-Straße, wie jeden Tag ab 13 Uhr. Die Arbeitstage sind kurz in Libyen, in den unsicheren Zeiten zieht es die Hauptstädter zu ihren Familien.
Einige Familienväter holen am Nachmittag ihre Kinder von der Schule ab, andere bringen ihre Frauen zum Einkaufen. Vor Anbruch der Dunkelheit leeren sich die Straßen.
Die Kreuzung an der Omar-Mukhtar-Straße ist ein Spiegelbild der widersprüchlichen Lage. Volle Läden und Cafés am Straßenrand einerseits, der Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung andererseits. Anders als Mohamed tragen es die meisten mit Fassung.
„Das Lebenselixier der Libyer ist die Familie“, sagt er. „Ich würde auch gerne heiraten, aber habe kein Geld für die Hochzeit. Deshalb fahre ich Taxi.“
Die wahren Herrscher
Seine Dienst-Kalaschnikow wird nicht mehr lange zu Hause liegen. „Gestern hat mich mein Vorgesetzter angerufen. Nächste Woche sollen wir wieder auf die Straße.“ Seine Freude ist gedämpft. Noch haben die Milizen das Sagen in der Hauptstadt. Auch nach dem Abzug der angeblich tausend Autos mit Bewaffneten der Nosoor-Miliz aus Misurata bleiben sie die wahren Herrscher in Tripolis.
Nachts preschen Jeeps mit verdunkelten Scheiben durch die Straßen: bärtige Männer auf der Jagd nach Drogenhändlern oder sonstigen Verdächtigen. Sie fackeln meist nicht lang.
So wie vergangene Woche, als ein Missverständnis an einem Checkpoint mit dem Tod des Kommandeurs der Nosoor-Miliz endete und Libyen an den Rand eines Bürgerkrieges brachte. Polizist Mohamed fürchtet vor allem die Islamisten unter ihnen: „Sie sind besser bewaffnet als wir und könnten wie in der Cyreneika Anschläge verüben.“ Die Cyreneika ist eine ölreiche Provinz im Osten des Landes.
Wie zur Bestätigung läuft im Autoradio die Meldung, der Militärgouverneur von Bengasi sei bei einem Anschlag auf seinen Konvoi verletzt worden. Über hundert Soldaten und Polizisten kamen in den vergangenen Monaten durch ferngezündete Bomben im Osten Libyens ums Leben. Die Anschlagserie begann, nachdem die Bürger die schlimmsten Milizen aus der Stadt geworfen hatten.
Die Suche nach einer Bürgerinitiative im Nobelstadtteil Hail Andalous ist ein Geduldspiel. Links und rechts der Schlaglochstraße stehen großzügige Villen, umringt von meterhohen Mauern. Hausnummern gibt es nicht, manchmal auch keine Straßennamen.
Die Architektur in Hail Andalous zeigt, wie sehr sich die Libyer ins Private zurückgezogen haben. Erst seit zwei Jahren entstehen wieder öffentliche Orte wie zum Beispiel Cafés.
In einer dunklen Ecke stehen junge Männer, die Expolizist Mohamed als Drogendealer identifiziert. Seitdem die Grenzen zur Sahara offen sind, sind die Preise für Drogen um die Hälfte gefallen. Am Strand parken Autos mit gelangweilten Jungs. Sie rauchen Joints. „Ich habe viel zu tun demnächst“, murmelt Mohamed.
An einem Rohbau wuchten Schwarzafrikaner in atemberaubendem Tempo Steine in den zweiten Stock. Am laut rotierenden Betonmischer steht Jumma aus Ghana. Er ist wie die anderen nicht älter als 30. In einer Odyssee durch die Sahara haben sie sich vor zwei Monaten von Agadez in Niger bis ans Mittelmeer durchgeschlagen. Insgesamt 1.400 Euro haben sie an die Schlepper und für das Durchkommen an den Checkpoints gezahlt.
„Wir waren einen Monat in Sebha in Südlibyen und haben dort das Geld für die Reise nach Tripolis verdient. Jetzt arbeiten wir für die 800 Euro, die eine Überfahrt nach Europa kostet.“ Weit werden sie es zum Boot nicht haben, denn hier an der „Whiskey Street“ legen nach Einbruch der Dämmerung die Seelenverkäufer Richtung Lampedusa ab.
Jumma sieht nicht glücklich aus, als er auf die Brandung schaut, denn schwimmen kann er nicht. „Wir verdienen gutes Geld hier, aber Libyen ist unberechenbar.“
Neben den heruntergekommenen Bars ein paar hundert Meter weiter wird heimlich Alkohol verkauft, 120 Euro die Flasche Wodka. Alkohol ist in Libyen offiziell verboten, unterm Ladentisch aber zu bekommen. „Was man privat macht, geht niemanden was an“, sagt der Verkäufer.
Als die Misurata-Milizen im Sommer die Nester der Alkoholschmuggler ausheben wollten, stellten sich ihnen deren Nachbarn in den Weg. „Ich trinke keinen Alkohol“, sagt ein Anwohner. „Aber wir sind hier nicht im Wilden Westen. Diese Leute können nicht einfach ankommen und Leute verhaften, nur weil sie Waffen haben. Wir wollen, dass die Polizei die Dinge regelt.“
Nur an einem Strandabschnitt in Hail Andalous liegt kein Müll. Hier haben sich Mohamed Nabous und seine Freunde einen provisorischen Golfplatz gebaut. Der Mittfünfziger mit Schnauzbart ist ein Machertyp. Seine Ausrüstung hat er aus Tunesien mitgebracht. Während er mit einem Architekten aus der Nachbarschaft über den Plänen für ein Clubhaus hockt, harkt eine Gruppe junger Leute den sandigen Platz.
„Es gibt zurzeit keine Gesetze, der Staat schläft. Also müssen wir alles selbst in die Hand nehmen. Hier kommt ein Fitness- und Gemeindeclub hin. Wir wollen die jungen Leute von der Straße holen,“ sagt der Geschäftsmann.
Initiativen entstehen
Ein Stück weiter sitzt Rihab Elhaj mit ihrer Gruppe über einer Karte von Hail Andalous. Die Aktivisten wollen verhindern, dass am Strand, wie vor der Revolution geplant, eine Schnellstraße gebaut wird. „Wir befragen die Anwohner, was sie hier verwirklicht sehen wollen. Im nächsten Schritt legen wir dem Lokalrat drei Konzepte vor.“
Überall in Libyen entstehen Initiativen wie „Vision Hail Andalous“. Mitbegründer Abdulfatah Milad will die Bürger motivieren, ihren Stadtteil selbst zu gestalten. „Dafür brauchen wir eine Verfassung und neue Gesetze, aber keine Milizen, sagt er. „Wir machen hier den ersten Schritt zur Demokratie, auch wenn es schwierig ist.“
Nach drei Tagen Generalstreik und Demonstrationen kommt die Botschaft der Bürger langsam an. 200 Kämpfer aus Jadu südlich von Tripolis zogen am Dienstag aus dem Luxusressort „Regatta“ ab. Auch die Städte Gharian und Nalut zogen ihre Milizionäre aus der Hauptstadt zurück. „Wir wollen nicht Opfer von Provokateuren werden und am Ende auf Zivilisten schießen, wie es die Misurata-Einheit gemacht hat“, sagt Adel Naji vom Lokalrat Gharian.
Im Café Casa in der Altstadt treffen sich ein Dutzend Aktivisten eines informellen und noch namenlosen Netzwerkes. Seit Monaten arbeiten sie an einem Plan, mit dessen Hilfe sie Milizen zum Rückzug zwingen wollen. Nezar, Mohamed und Khaled, gut verdienende Ölingenieure, sind seit dem Sommer dabei.
„Wir werden jeden Tag mehr, kennen uns ausschließlich über Freunde“, sagt Nezar. „Denn schon Facebook-Einträge könnten gefährlich sein. Die Frau eines Freundes von mir, eine bekannte Rechtsanwältin, ist seit Wochen spurlos verschwunden. Sie wurde auf offener Straße entführt, wohl wegen ihrer Kritik an einer Milizangehörigen auf Facebook.“ Trotz der ersten Erfolge ist bei dem Treffen von Euphorie keine Spur. Die Lage ist kompliziert. Am vergangenen Freitag wurden unbewaffnete Demonstranten beschossen. 43 Menschen starben, 500 wurden verletzt. „Nach dem Massaker am Freitag haben die vernünftigen Milizen weise Entscheidungen getroffen“, urteilt Nezar. „Immerhin.“
Neben den Kämpfern aus Zintan, südwestlich von Tripolis, sind aber noch die „Nawasi“, die „Qua Qua“ und die Islamisten vom Sicherheitsrat in der Stadt. Diese Milizen kommen aus Tripolis und werden von der Regierung bezahlt. Premierminister Ali Seidan hat angekündigt, den Milizen ab Januar keinen Sold mehr zu zahlen.
„Wir haben dann eine Menge junger Leute auf der Straße, die sich heute mit ihrer Kalaschnikow allmächtig fühlen. Und über Nacht um einen Job kämpfen müssen“, gibt Khaled zu bedenken.
Ein Wort fällt in der Diskussionsrunde immer wieder: Ausbildung. Als Nächstes wollen sie eine private Berufsschule gründen. „Es muss jetzt alles ganz schnell gehen, sonst werden die Al-Qaida-Extremisten die Jungs von der Straße holen“, sagt Khaled.
Weitere Freunde treffen im Café ein. Sie haben die verletzten Demonstranten im Krankenhaus besucht. Die Stimmung ist gedrückt. Morgen ist der nächste Demonstrationszug zu einer Milizenkaserne geplant, der Ort bleibt vorerst geheim. „Ich habe ehrlich gesagt Angst“, gibt Mohamed zu und kaut an seinen Fingernägeln. „Aber es hilft nichts, früher oder später müssen wir uns dem Problem stellen, wenn wir in einem normalen Land leben wollen.“ Nach kurzer Diskussion fällt die einstimmige Entscheidung. Alle werden mitmarschieren.