: Merkel auf Gratwanderung in Peking
Bei ihrem Antrittsbesuch in China spricht die Bundeskanzlerin die Unteilbarkeit der Menschenrechte an und zeigt sich offen, was die Interessen des Gastgebers anbelangt. Zwischen Kritik und Lernbegierde agiert sie wie eine typische Chinareisende
AUS PEKING GEORG BLUME
Neun Stunde währt ihr Gesprächsmarathon mit Parteichef, Premierminister und Zentralkomitee in Peking. Dann tritt Bundeskanzlerin Angela Merkel vor die Große Halle des Volkes im Zentrum der Stadt, schaut über die im Abendrot glänzenden Dächer des chinesischen Kaiserpalasts, presst die Daumen gegeneinander, faltet die Hände und sagt: „Ich bin sehr zufrieden.“ In ihrer Stimme schwingt Erleichterung mit.
Als wolle sie sagen: Ich habe es geschafft. Ich bin einen Tag lang durch die chinesische KP-Hölle geritten und habe mich nicht verleugnet. Ein bisschen war es auch so. Schon am frühen Morgen war der kommunistische Teufel in Gestalt von Premierminister Wen Jiabao ganz entspannt mit ihr umgegangen, hatte die Krawatte abgelegt, den Kragen aufgeknöpft und sie durch einen der schönsten alten Gärten seiner Hauptstadt geführt. Er hatte Holzschläger und Ball mitgenommen, um sie ein altes chinesisches Schattenboxenspiel zu lehren. Er führte ihr das Spiel elegant vor und Merkel spielte mit. Doch sie ließ sich nicht beirren.
Schon beim privaten Frühstück mit dem Premierminister sprach sie die heiklen Themen an: Menschenrechte und Schutz des geistigen Eigentums. Sie ließ von diesen Themen den ganzen Tag nicht ab. Auch wenn sie später sagte, dass es ein „wunderschönes Frühstück“ war.
Angela Merkel war erst zum zweiten Mal in China. Einmal vor neun Jahren als Umweltministerin, nun der kurze, nur 38-stündige Antrittsbesuch als Kanzlerin. Die chinesische Führung wollte sie lieber früher als später sehen. Weil der britische Premierminister Tony Blair und der französische Präsident Jacques Chirac in Schwierigkeiten stecken und Peking in der EU sonst keine Ansprechpartner mehr hat.
Zum Beispiel bei dem Atomstreit mit dem Iran. Über eine Stunde diskutierte Parteichef Hu Jintao mit Merkel vor allem darüber. Sie konnte ihm dabei seine Sorge nicht nehmen, dass Washington noch einmal in den Krieg zieht. Aber Merkel knüpft an einem Netz. Sie spricht abwechselnd mit allen: mit US-Präsident George W. Bush, seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin, dem ägyptischen Staatschef Hosni Mubarak und jetzt mit Hu. Sie sagt: „Die internationale Staatengemeinschaft muss zusammenhalten.“
Am Abend gibt sie sich sicher, dass sich die chinesische Regierung trotz ihres falschen politischen Systems auf dem richtigen Weg befindet. Wie ein Widerspruch klingt das. Erst kritisiert sie Peking standhaft. Sie fordert die Unteilbarkeit der Menschenrechte und klagt den Schutz der geistigen Eigentumsrechte ein, deutlicher, als es ihre Vorgänger taten. Dann wiederum betont sie, wie viel sie von der KP-Führung im Laufe des Tages gelernt habe. Zum Beispiel über Pekings eigene Interessen, das geistige Eigentum der chinesischen Unternehmen besser zu schützen. Weil China ja nun selbst Hochtechnologieland werden wolle.
Die Kanzlerin absolviert also eine Gratwanderung zwischen Kritik und Lernbegierde. Sie zeigt offen, wie es heute fast jedem Chinareisenden ergeht. Und vergisst dabei eigene Vorschläge nicht: Ein neues deutsch-chinesisches Jugendwerk will sie ins Leben rufen, wie es das bisher nur mit Frankreich und Polen gibt. Kanzlerstipendien für Chinesen einführen, die es bisher nur für Amerikaner und Russen gab. Sie sagt, es sei eine wichtige Entwicklung, dass heute immer mehr Deutsche Chinesisch lernen. Es klingt, als wolle sie sagen, dass man auch lernen muss, mit dem Teufel umzugehen. Nach dem Motto: China ist China. Damit sich die Deutschen nicht einbilden, dass ihre Kritik etwas ändern würde. Genauso wenig wie man annehmen dürfte, dass sich das richtige System – die Demokratie – eins zu eins nach China übertragen lasse.
Aber wie gesagt: Merkel war am Ende sehr zufrieden. Sie hatte versucht, China nicht schwarzweiß zu sehen.