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Archiv-Artikel

Das Mord-Gefälle

NORD-SÜD-VERGLEICH Mehr Mord und Totschlag, mehr Diebstahl, mehr Anzeigen: Die Kriminalitäts-Statistik stellt den Norddeutschen im Vergleich zu den Süddeutschen ein schlechteres Zeugnis aus. Immerhin: Einige dieser statistischen Unterschiede sind erklärbar

VON HENNING BLEYL

Der durchschnittliche Niedersachse mordet deutlich häufiger als der gemeine Bayer. Die Schleswig-Holsteinerin klaut doppelt so oft Fahrräder wie die Baden-Württembergerin. So sieht’s aus – vergleicht man die Kriminalstatistiken der Landeskriminalämter.

Aber sind wir deswegen wirklich böser? Was verbirgt sich hinter der „HZ“, der Häufigkeitszahl der Statistiker, die in der Kategorie Mord und Totschlag bei Niedersachsen eine 3,1, bei Bayern aber nur eine 2,4 schreiben? Diese „HZ“ bedeutet zum Beispiel: Von 100.000 BremerInnen werden 4,8 des Mordes verdächtigt. Damit sind sie bundesweit Spitzenreiter.

Nun ist der Vergleich von Flächenländern und Stadtstaaten zum Glück nicht im geringsten aussagefähig. Doch wenn man sich auf den Vergleich von Flächenländern und von kommunalen Daten beschränkt, kommt der Norddeutsche leider immer noch schlecht weg. Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ihm mal das Messer ausrutscht, ist tatsächlich erheblich höher als im Süden.

Auch bei der Gesamtbetrachtung aller Straftaten sind die nackten Kriminalitätsdaten eindeutig: Während in den südlichen Bundesländern rund 5.000 Straftaten auf 100.000 Einwohner kommen – was ja auch schon nicht wenig ist –, sind es in den nördlichen Flächenländern gut 7.000.

Nun könnte man sagen: Im Süden wird eben weniger Fahrrad gefahren, wegen der ganzen Hügel, und dann klaut man sie auch nicht so oft. Das stimmt. Geschäfte gibt es in Bayern allerdings schon. Und zugegeben: Der HZ 440,5 in Mecklenburg-Vorpommern für Ladendiebstahl steht in Bayern eine 283 gegenüber. „Diese regionalen Muster sind seit Jahren beständig“, sagt Monika Kaiser vom Statistischen Landesamt Baden-Württemberg.

Um die Norddeutschen von der Last dieser Zahlen etwas zu befreien, sind aber tatsächlich etliche Einwände möglich. Das beginnt mit dem Nord-Süd-Gefälle im Anzeigeverhalten, wird verstärkt durch unterschiedliche polizeiliche Statistik-Strategien und endet noch nicht bei den divergierenden soziodemografischen Profilen der Regionen.

„Die Norddeutschen melden Straftaten deutlich häufiger bei der Polizei als ihre süddeutschen Mitbürger“, sagt Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Pfeiffer kann das sowohl empirisch als auch anekdotisch belegen. Der frühere niedersächsische Justizminister wuchs in Bayern auf und berichtet von dort Folgendes: „Ich stech’ dich ab, du Sau“, habe im Wirtshaus seines Dorfes jemand gerufen – und zugestochen. „Er traf aber nur in den Hintern“, erinnert Pfeiffer. Daraufhin hätten Bürgermeister und Pfarrer die Angelegenheit geregelt – und niemand habe die Polizei wegen versuchten Mordes eingeschaltet. Merke: Was etwa in Kreuzberg als Fall von „Parallel-Justiz“ streng verurteilt würde, gilt in Bayern offenbar als akzeptable „Mir san mir“-Lösung.

Das setzt sich bei den Behörden fort. „In München ham’s gern a niedrige Tat- und a hohe Aufklärungsquoten“, zitiert der Ex-Justizminister einen Polizisten aus dem bayerischen Wald. Der sei also entsprechend zurückhaltend, wenn es um die Weiterleitung von Anzeigen mit geringer Aufklärungswahrscheinlichkeit gehe.

Im Norden hingegen könnte die Strategie nicht gegensätzlicher sein: Hohe Fallzahlen sollen hier eine hohe Personalquote rechtfertigen. Paradebeispiel ist das Bremer Morddezernat. „In Bremen wird bei jedem Messerstich in den Oberarm zunächst auf Mord ermittelt“, sagt Pfeiffer. Zwar ist das Herunterstufen von Tötungsdelikten im Verlauf des Verfahrens auch andernorts zu beobachten – aber längst nicht so ausgeprägt. Die unterschiedlichen Einstufungsstrategien werden deutlich, wenn man die Ermittlungsstatistiken mit den letztlich ergangenen Urteilen vergleicht. Das Ergebnis: Nur zehn Prozent derjenigen, gegen die in Bremen wegen Mordverdachts ermittelt wird, werden auch wegen Mordes verurteilt. In Hamburg beispielsweise sind es 60 Prozent.

Zu viele Ermittlungen

Das Beispiel der Bremer „Mord“-Ermittlungen ist also auch innerhalb des Nordens ein Sonderfall, verweist symptomatisch jedoch auf die Frage, ob man sich lieber an Planstellen oder an Aufklärungsquoten orientiert. Der Strafrechtler Johannes Feest von der Universität Bremen sagt es so: „Bremen kann sich nur deswegen ein eigenes Morddezernat leisten, weil es seit Jahren eine weit überhöhte Mordermittlungsrate ausweist.“

Allerdings: Auch nach Berücksichtigung solcher statistischer Verzerrungen bleibt die kriminelle Energie im Norden höher als im Süden. Dafür seien, sagt Pfeiffer, soziodemografische Faktoren verantwortlich: weniger Arbeitslosigkeit, weniger Scheidungen, weniger Umzüge. Letzteres führe zu größerer sozialer Stabilität. Größerer Wohlstand wiederum zu besser geschützten Häusern und die höhere Anzahl von Garagen zu weniger Autodiebstählen – all das ist statistisch nachweisbar. Dazu kommt die Polizeidichte, die im Süden, gemessen an der Deliktzahl, höher ist. Die daraus resultierende höhere Aufklärungs- und Abschreckungsquote unterstützt die Tendenz, dass räumlich mobile Einbrecher lieber im Norden agieren.

Immerhin: An Körperverletzungen ist der Norden nicht ganz so überproportional beteiligt wie bei den anderen Deliktfeldern.

Aber gibt es ansonsten gar nichts, wo der Norden auch mal weniger kriminell ist? Schaut man in die Detaildaten, findet man immerhin spannende Ungleichzeitigkeiten. Während die Münchner insgesamt eine deutlich unterdurchschnittliche Gewaltbelastung haben, sind die dortigen türkischstämmigen Jugendlichen wesentlich häufiger in der Gewaltstatistik vertreten als eine Vergleichsgruppe in Hannover. Die Korrelation zum Bildungsgrad wird deutlich, wenn man die Zahlen höherer Schulabschlüsse in diesen Gruppen daneben legt: In Hannover liegt er bei 54, in München nur bei 26 Prozent. Die integrierende Wirkung von Bildung übersteigt somit sogar den Sog des Nord-Süd-Gefälles.

Das deutlichste Nord-Süd-Gefälle ist im übrigen innerhalb der Hamburger Stadtgrenzen zu beobachten. 2012 gingen in fast allen Stadtteilen südlich der Elbe die Straftaten deutlich zurück – was man von den Gebieten am Nordufer leider nicht behaupten kann. Auf St. Pauli etwa wurden im vergangenen Jahr 42 Prozent mehr Raubüberfälle registriert, im Stadtteil Harburg gingen sie im selben Zeitraum um 32 Prozent zurück. Das Böse und das Gute, der Norden und der Süden – sie schlagen sogar im Herz derselben Stadt.