Eintritt in die Nacht

NACHTLEBEN Die Clubs sterben aus, sind nicht mehr rotzig, längst im Mainstream angelangt: Der Abgesang auf die Berliner Clubkultur kennt viele Melodien. Die Realität trotzt ihm mit pumpenden Bässen und mehr Läden als je zuvor

■ Club: Der Bundesverband LiveMusikKommission definiert einen Club als „Ort musikalischer Prägung, der mindestens 24 Live-Künstler im Jahr auftreten lässt“. Die maximale Kapazität beträgt „2.000 Personen“.

■ Entwicklung: Zwischen 1995 und 1997 gab es in Berlin 97 Clubs, von 2010 bis 2012 waren es 238.

■ Arbeitsplätze: Laut Club Commission sind durch die Clubwirtschaft „in den letzten Jahren“ Zehntausende Jobs entstanden

■ Förderung: Am 1. Dezember soll eine Tool-Box der Club Commission online gehen: „How to club? Was muss ich als Club- oder Partymacher beachten?“ Die Vereinigung bietet auch Rechtsberatung für Clubbetreiber an. Das Musicboard verleiht 2014 zum ersten Mal ein mit insgesamt 65.000 Euro dotiertes Pop-Stipendium. Aus 150 BewerberInnen wurden neun StipendiatInnen ausgewählt: vier Frauen, vier Männer, ein gemischtes Pop-Duo. Das Musicboard erhält jedes Jahr eine Million Euro vom Land. (taz)

VON JENS UTHOFF

Ein dumpfes Geräusch dringt zwischen den weißen Plattenbauten an der Berolinastraße in Mitte durch. Kurz vor sechs, Samstagmorgen. Es beginnt zu dämmern. Um die null Grad. Ein gemischtes Grüppchen, drei Typen, zwei Mädels, zieht durch die Straßen der Stralauer Vorstadt. Sie wärmen sich mit Wodka. Ihr Ziel versteckt sich zwischen diesen Blöcken.

Dort liegt ein Supermarkt in einem einstöckigen Gebäude. Daneben eine Tür, hinter der man einen Lagerraum vermuten würde. Als sie sich öffnet, hört man erst frickelige Klänge, dann Bässe. Betrunkene und Druffis wanken durch einen dunklen, dunstverhangenen Raum; durch den Rauch erkennt man vage die provisorisch abgetrennte Tanzfläche und Sofas zum Fläzen.

„I fucking love Berlin“, grölt ein schmaler, bärtiger Mann, der in die ranzige, mit Graffiti-Tags versehene Mixed-Gender-Toilette torkelt. Auf der geht es so dicht gedrängt zu, wie auf jeder guten WG-Party in der Küche. „I’m from Geneva“, erzählt er, „boring damn city!“

Langeweile muss das junge Partyvolk in Berlin nicht fürchten. Dabei ist der Abgesang auf das Nachtleben der Stadt schon seit langer Zeit angestimmt: zu viele Touristen, nicht mehr wild und dreckig genug, und bald ist alles weggentrifiziert. Partymetropole Berlin? Aus und vorbei!

Jüngst brach eine Nostalgiewelle herein, zahlreiche Publikationen und Ausstellungen drehten sich um das Berliner Nachtleben der 80er und vor allem der 90er Jahre – mitunter mit jammerigem Ton: Ach, wie schön das noch war, als es die ganzen Freiflächen in der Stadt gab! Als die jungen Nachwende-Clubber an einem Abend hier, am nächsten dort feierten.

Und heute? Was bleibt übrig von dieser spontanen, sich immer wieder neu erfindenden Berliner Clubkultur? Gibt es sie überhaupt noch, die Berliner Clubkultur? Natürlich, Neues, wie hier in dem kleinen Schuppen namens Naherholung Sternchen, gibt es immer zu entdecken. Mit dem Subversiven aber ist es nach Meinung der Bedenkenträger endgültig vorbei: Die Freiflächen gehen verloren.

Die coolen Subkulturen wurden eigentlich immer dann langweilig, wenn sie zu kommerziell, zu sehr Mainstream, zu professionell wurden. All diese Entwicklungen hat Berlin hinter sich – und bislang überlebt. Mittlerweile sind Berghain und Watergate zu Institutionen des Nachtlebens geworden, die von Verbänden wie der Club Commission vertreten werden – und vom Musicboard, das vom Senat ins Leben gerufen wurde.

Was hat es also auf sich mit den Unkenrufen über Berlins Nachtleben? Ist die große Party schon gefeiert?

Wie sich Berlins Clubkultur für die Zukunft rüsten will SEITE 44, 45

Freitagnacht, gegen eins. In der Gerichtstraße nahe des S-Bahnhofs Wedding. Vor dem Stattbad stehen zwei Absperrgitter. „Oh, du sprichst meine Sprache“, sagt der große, blonde Türsteher auf Deutsch zu einem Ankömmling. Sonst hört er hier fast nur Englisch.

Bis 1999 zogen die Weddinger hier ihre Bahnen im Schwimmbecken. Seit vier Jahren dient der schlichte Bau, der nach dem Krieg wieder errichtet wurde, mit mehreren Floors als Partylocation. Die größte Tanzfläche: das ehemalige Becken. An diesem Abend ist aber nur im Heizraum was los. Ein schlaksiger junger Mann boxt direkt vor dem DJ-Pult in die Luft, schlägt im Rhythmus der Beats gegen die Wand. Sphärische House-Musik läuft. Von der Tanzfläche aus blickt man auf drei alte Boilerkessel. Auf den Sitzschalen bohrt sich der Sound in den Körper. Man sitzt zwischen Ventilen, Reglern, Knöpfen und Hebeln der ehemaligen Heizanlage.

In den schmalen Gängen zwischen den Floors riecht es nach Schweiß, dann nach den Parfümschwaden der Mädels, die sich vorbeiquetschen. Ein Typ sagt: „Wir wollen gleich noch rüber in dieses andere Ding, Humboldthain oder wie das heißt.“

In beiden Clubs kennt sich DJ Cinthie bestens aus. Es sind die Locations, in denen die Berlinerin häufig auflegt. Die 33-Jährige – dunkelbraune Haare, fransiger Pony, Tattoos auf den Unterarmen – sitzt in einem Friedrichshainer Thai-Imbiss und erzählt, wie sie in den 90ern mit der Szene in Berührung kam. „Ich fing an, in nem Plattenladen zu arbeiten. Dann fragt dich einer, ob du auflegst, und so huschst du da rein.“ Niemand habe damals gefragt, „wie alt du warst, welche Hautfarbe du hattest, ob du schwul oder lesbisch warst. Und vor allem gab es nicht dieses Popstar-Ding.“

Seither hat sich in der Technoszene einiges verändert. „Wenn die berühmten DJs in Berlin auflegen, dann residieren die heute in Fünf-Sterne-Hotels. Für mich ist es nicht mehr der Gedanke von Techno.“ Sie selbst legt auf, „was groovt, oldschool und dreckig ist“, sagt sie.

Cinthies Nachfolger stehen schon bereit: „Es gibt gerade eine ganz junge, total heiße House-Szene in Berlin, die haben ein cooles Netzwerk, stehen alle auf Vinylplatten und sind begeisterungsfähig.“ Cinthie redet schnell, schiebt sich zwischendurch die Tofustückchen aus der Thaisuppe in den Mund. Wenn sie von etwas begeistert ist, sagt sie „mega“. Die „roughen“ Clubs etwa, die seien „mega“. Die interessieren sie mehr als die angesagten Glitzer- und Kostümpartys.

Auch auf ihrem eigenen Label, Beste Modus, vertreibt Cinthie ausschließlich Vinylscheiben, wie in der frühen Technoszene üblich. Die Künstler, deren Werke sie veröffentlicht, spielen Techno und Chicago House, manche sind vom Funk und HipHop beeinflusst.

Für all die pessimistischen Prognosen zur Zukunft der Berliner Clubkultur sieht die DJane keinen Anlass. „Berlin ist immer noch keine fertige Stadt wie etwa Frankfurt oder so“, sagt sie.

Warum auch sollte das Erbe der Elektroszene aus den 90ern schon verhallen? Historisch gesehen haben die Revolutionen in der Musikkultur und im Nachtleben ihren Einfluss auf die Gegenwart nie verwirkt. Im vergangenen Jahrhundert hat die Ausgehkultur drei große Zäsuren erlebt: in den 1920ern, den 1960ern und eben in den 1990ern.

Den Geist der Goldenen Zwanziger schlugen die Nazis nieder, die Nachwirkungen von Rock ’n’ Roll spürt man bis heute. Techno und Elektro stecken im Vergleich dazu noch immer in den Kinderschuhen, gerade sind experimentelle Strömungen, weniger beatlastig und mehr in Richtung Soundcollage und Geräuschkunst, angesagt. Auch die zunehmenden Verbindungen zur visuellen Kunst sind noch nicht ausgeschöpft.

Direktorenhaus der Alten Münze, Mitte. In einem rustikal eingerichteten Büro sitzt Katja Lucker an ihrem Tisch und telefoniert. „Ich glaub, ich lass mir bald ein T-Shirt drucken, auf dem ‚Scheiß 90er‘ draufsteht“, sagt sie zu ihrem Gesprächspartner. Lucker ist die Leiterin des Musicboards Berlin, die meisten nennen sie Pop-Beauftragte, die erste in Deutschland. Ende vergangenen Jahres hat der Berliner Senat der ehemaligen Chefin der Kulturbrauerei den Posten übertragen.

Die 44-Jährige ist das ewige Wehklagen leid. „Es gibt immer noch eine solch ungeheure Vielfalt. Und es gibt auch immer noch ein paar Brachen.“ Die Sache mit dem Clubsterben bezeichnet sie als „mediengemachten Quatschkram“. Sicher würden Clubs schließen, aber auf jeden komme mindestens ein neuer. Normale Fluktuation.

Die Kulturmanagerin mit den blondgelockten Haaren könnte man sich auch am DJ-Pult vorstellen. Stattdessen fördert sie Elektromusiker, indem sie mit dem Musicboard Pop-Stipendien vergibt. Oder sie kümmert sich um Lärmschutz für Clubs, damit die im Zentrum erhalten bleiben.

Die Erwartungen der Feiernden hätten sich leicht verändert, sagt Lucker. Es gehe häufig nicht mehr ums bloße Saufen und Tanzen, dafür werde beim Ausgehen wieder „mehr miteinander geredet“. Bei den Clubs erkennt sie die Tendenz, eher kleinere, gemütliche Läden zu eröffnen, chillige wie das Antje Öklesund in Friedrichshain, das auch versucht, Galerie und Dancefloor zu verbinden. „Ausgehen in Berlin verliert nichts an Faszination“, glaubt Lucker. „Sich in dieser wilden Mischung aus Kunst und aufregender Musik, Club-Mate und Wodka zu verlieren und von Club zu Club zu hoppen, bleibt aufregend.“

■ Clubszene: Berlin ist noch immer eine Hochburg für Elektro-Musik. Andere in den 90ern beliebte Musikstile wie etwa HipHop führen ein Nischendasein.

■ House: House-Musik hat ihren Ursprung Ende der 70er im Chicagoer Warehouse-Club. Man koppelte damals Disco-Stile mit europäischer Elektronikmusik. Während Chicago House die Ursprünge des House bezeichnet, gibt es Variationen wie etwa Minimal House (vergleichsweise langsam), Deep House (meist melodischer) und Acid House (lebt von der Steigerung, oft breakreich).

■ Techno: Mit Techno ist hier der Elektrostil gemeint, der in Detroit seine Wurzeln hat (Detroit-Techno) und der Mitte der 80er aus House, Funk, Elektro (Kraftwerk; Yello) und Elektropop entstanden ist. Damals entstand ein komplexerer, experimentellerer Sound als der historisch ältere House-Stil. (taz)

Kurz vor sieben am Samstagmorgen. Geht man vom Naherholung Sternchen rüber zum Berghain, ist das so, als ginge man zum Shoppen erst in den Second-Hand-Shop und dann zu Armani am Ku’damm. Männer in maßgeschneiderten Anzügen oder in Feinripp, Frauen in Domina-Dress oder junge Hipster mit Hornbrillen und umgekrempelten Hosen treten ein.

Die Schlange ist kurz heute, drinnen tobt eine kleine Party auf nur einem Floor. Am Eingang wartet Türsteher Sven Marquardt mit zwei jungen Helfern. Die Unerfahreneren gucken etwas ängstlich zu Marquardt rüber, ob sie auch hineindürfen. Die Türpolitik des Clubs, das sexuell Freizügige, die öffentliche Zurückhaltung der Betreiber: Der Mythos ist ungebrochen.

In den Foren der Clubgänger heißt es inzwischen oft: Berghain? Nur noch Hollywood, reine Kulisse. Geht man die zwei Etagen hoch in Richtung der Tanzflächen, sieht man das erwartete Bild: hochgradig herausgeputzte Menschen, viel feiner, schwarzer Stoff an den Körpern. Harte, fast brutale Bässe, die lauter sind als in anderen Locations. Die Toiletten, mixed gender, als Aufenthaltsraum. Gepolsterte Flächen zum Abhängen. In einem Separee holt ein Typ einem anderen einen runter, im nächsten kniet ein Bärtiger zwischen Frauenbeinen.

Das Berghain ist ein gut laufender mittelständischer Betrieb. 300 Menschen arbeiten hier. „Heutzutage ist ein Clubbetreiber ein Unternehmer“, sagt Lutz Leichsenring, Sprecher der Club Commission. Sein Verband hat sich 2009 gegründet, um den Erhalt der Berliner Clubkultur zu sichern und sie fortzuentwickeln, und auch, um die Clubs im Streit mit der Gema zu vertreten, die ihre Hand über die Urheberrechte von Komponisten hält.

Natürlich ist auch die Verlagerung der Clubs aus dem Zentrum an die Peripherie ein Thema: „Es ist da ein Drift festzustellen, der sich natürlich nach bezahlbaren Räumen richtet. Sollte die Szene aus den innerstädtischen Bezirken verschwinden oder sich zu sehr kommerzialisieren, verliert Berlin ein Alleinstellungsmerkmal“, erklärt Leichsenring. „Es geht darum, die noch vorhandenen Flächen im Zentrum erbittert zu verteidigen.“ Mit den Stadtmarketing-Agenturen VisitBerlin und Berlin Partner zusammenzuarbeiten, ist für ihn kein Widerspruch: „Bevor die meinen, Berliner Clubkultur zu repräsentieren, sollen sie lieber uns fragen.“ Kürzlich etwa schickte die Club Commision DJs vom Ritter Butzke nach Warschau, um dort das hiesige Nachtleben zu repräsentieren.

Rummelsburg, nach sieben Uhr. An der Hauptstraße, die Richtung Köpenick führt, liegt zur Linken der Sisyphos-Club. Das große Eingangstor des Clubs ist verschlossen, hinter dem Gelände sieht man die Schlote des Heizkraftwerks dampfen. Mittlerweile ist es fast hell. Eine junge Frau steht allein am Eingang. Ein stämmiger schwarzer Türsteher mit Dreadlocks kommt raus: „Ist eine Betriebsfeier heute, deshalb ist zu. Normalerweise ist hier von Freitagabend bis Montagmorgen ’ne Schlange.“ Wer das durchhält, kann hier das gesamte Wochenende verbringen, bis man Montagmorgen um zehn rausgeschmissen wird.

Der Abgesang auf die Berliner Clubkultur ist zu früh angestimmt worden. Aus den Provisorien der Vergangenheit hat sich zwar eine Industrie entwickelt – ein großes, noch nicht ausgeschöpftes Experimentierfeld ist die Berliner Partyszene aber weiterhin. Die Veranstalter denken sich neue Konzepte aus, bleiben nicht aufs Dasein als Tanzschuppen beschränkt: Im Naherholung Sternchen etwa gibt es Opern, Theaterstücke, Lesungen und Filme. Überhaupt scheinen sich die Kultursphären anzunähern.

Im Klunkerkranich, einem Veranstaltungsort auf dem Dach der Neukölln Arcaden, geht man seit vergangenen Sommer ebenfalls neue Wege: Betreiber Robin Schellenberg verbindet dort Partys und Veranstaltungen mit Dachgarten, Restaurant und Café. Schellenberg betreibt zusätzlich auch noch den Kellerclub Fuchs und Elster in der Weserstraße. Schellenberg sagt, man achtete darauf, „in Bewegung zu bleiben, offen für Neues zu sein“ – das sei schließlich Teil des Clubgeschäfts. „Anfang des Jahres haben wir das Fuchs und Elster einmal komplett auseinandergenommen und einfach noch mal neu aufgebaut“, sagt der 29-Jährige. Wolle man als Club- und Partymacher bestehen, müsse man die Konzepte und die Einrichtung immer wieder überdenken.

Denn es sind – wie in den gepriesenen 90er Jahren – vor allem auch die Orte, von denen die Besucher geflasht sind: im ehemaligen Schwimmbad zu tanzen oder in abgewrackten Bauten, in denen einst die Nationale Front hauste oder die DDR-Wohnblock-Restaurants waren.

Irgendwann aber geht jede Partynacht zu Ende. Um acht Uhr sind die Türen des Fuchs und Elster in Neukölln bereits verschlossen. Durch die Weserstraße zieht eine kleine Gruppe – rumalbernde Leute um die 30 Jahre. In ihrem Dunstkreis riecht es nach kaltem Rauch, ein leichter Schnapsgeruch mischt sich darunter. Sie wollen weiterziehen.