ACHSE DES JAZZ VON TIM CASPAR BOEHME
Revolution

Was hat Jazz mit der US-Bürgerrechtsbewegung zu tun? Das für seine sorgfältig ausgewählten Compilations bekannte britische Label Soul Jazz gibt, auf zwei CDs verteilt, eine kursorische Antwort. Unterschiedliche Stimmen des „revolutionären Jazz“ kommen zu Wort. In einem Überblick, der die Zeitleiste zwischen 1963 und 1982 abdeckt, kann man neben Songs großer Stars wie Joe Henderson, Sun Ra oder dem Art Ensemble of Chicago auch weniger geläufige Revolutionsjazzer erleben. Ihre Ausdrucksformen reichen von Latin-Grooves über Soul-Jams bis zu abstraktem Free Jazz. Manchem Musiker reichen die Instrumente für ihre Botschaft, andere deklamieren auch Texte, um Position zu beziehen. Am entwaffnendsten zeigen sich Sun Ra und sein Outer Space Arkestra mit der alles andere als weltfremden Klarstellung zur Gefahr eines Atomkriegs: „If they push that button, your ass is gonna go“. Neben der Stilvielfalt auf „Freedom, Rhythm and Sound“ beeindruckt auch der Do-it-yourself-Ansatz: Um künstlerische Kontrolle über ihre Musik zu behalten, haben die Jazzer bereits in den 60ern begonnen, Stücke selbst aufzunehmen, zu veröffentlichen und zu vertreiben, womit sie dem Punk zuvorkamen. Die Revolution wird schließlich auch nicht im Fernsehen übertragen.

■ V. A. „Soul Jazz Records presents Freedom, Rhythm and Sound“ (Soul Jazz/Rough Trade)

Vibration

Einen sozialpolitischen Aspekt hat auch die Musik des Kollektivs Tribe, 1971 vom Posaunisten Phil Ranelin und dem Saxofonisten Wendell Harrison in Detroit gegründet. Außer als Band fungierten Tribe zugleich als unabhängiges Label und als Magazin, womit sie sich ebenfalls in die Tradition des revolutionären Jazz einreihen. Jetzt hat der Detroiter Technoproduzent Carl Craig das Kollektiv noch einmal in sein Studio gebeten und ihre Musik mit einer behutsam elektronisch unterlegten Produktion versehen. Kombinierte man in den Siebzigern noch Soul und Funk mit Free Jazz, hat sich das Kollektiv diesmal ganz auf den Groove der Maschinen verlassen. Radikale Jazz-Entwürfe darf man von den mittlerweile in die Jahre gekommenen Tribalisten daher nicht erwarten, doch der Musik schadet das keineswegs. In der Neuinterpretation von Phil Ranelins Klassiker „Vibes From the Tribe“ zum Beispiel traut sich der ansonsten sehr zurückhaltende Craig sogar ein wenig aus der Deckung und erweitert den knorrigen Experimentalfunk mit elektronischen Elementen. So kann man mit „Rebirth“ sehr gut nachvollziehen, warum die Musik von Tribe einen großen Einfluss auf die House- und HipHop-Szene hatten: Ihre Musik fließt, ohne zu kleben. Allein in den Gesangsnummern gibt es etwas zu viel der Harmonie. Ansonsten gilt das Wort von Funkadelic: Free your mind and your ass will follow.

■ Tribe „Rebirth“ (Planet E)

Diversifikation

Eigentlich hätte diese Platte schon vor Jahren fertig sein sollen. Seit 2002 laborierte die in Tokio lebende Sängerin Sublime mit dem in Paris lebenden Japaner Jun Miyake an ihren Chansons, die ursprünglich als Soloalbum geplant waren. Und obwohl sich der Trompeter bei dieser Kooperation mit seinem Instrument etwas zurückhält, tritt er als Arrangeur auf „Ludic“ umso stärker in Erscheinung. So sehr, dass man die Stücke für seine eigenen Kompositionen halten könnte. Ähnlich wie auf Miyakes grandiosem Vorgänger-Album „Stolen From Strangers“, bei dem er unter anderem von Arto Lindsay und einem bulgarischen Kinderchor unterstützt wurde, mischt er die unaufdringliche Stimme von Sublime mit einer auf den ersten Blick unmöglichen Mischung aus Jazz, Chanson, Latin und Filmmusik-Stimmungen, die in weniger kundigen Händen rasch zu beliebigem Mischmasch zerlaufen wäre. Miyake schafft es jedoch, seine wild zusammengeklaubten Zutaten mit Nonchalance zu versehen, für die man ihm so ziemlich alles durchgehen lässt. Dank Sublimes diskretem Gesang bekommt das kalkuliert kunterbunte Treiben ein perfektes Gegengewicht, und am Ende wundert man sich, dass die Sache so schnell vorüber ist. Doch gehört auch dies zu Miyakes Kunst: Bei allem Ungestüm weiß er genau, wann Schluss ist.

■ Sublime & Jun Miyake „Ludic“ (Yellowbird/Enja)