Die Politik der Zunge

AROMA Wer wirklich genießen will, muss Essen wieder richtig erschmecken. Auch Ekel könnte dabei helfen

Auf jedem Teller liegt vor uns nicht nur große Weltgeschichte, sondern auch individuelle Historie

VON JÖRN KABISCH

Es gibt dieses Experiment, das immer wieder in TV-Kochshows gemacht wird. Ein Koch oder ein anderer geschulter Esser bekommt eine Biotomate vorgesetzt und eine konventionelle. Manchmal ist es auch ein Steak aus Massentierhaltung und daneben ein Stück Fleisch von einer glücklichen Kuh. Schmecken die Experten einen Unterschied? Meistens nicht. Oft bekommt sogar das industrielle Produkt die besseren Noten. Allen ist das schon passiert, auch politisch engagierten Köchen wie Vincent Klink oder Sarah Wiener.

Und jedes Mal fragt man sich: Kann man dem eigenen Geschmack noch trauen? Regional einkaufen, Biolebensmittel, die ganze politische Korrektheit bei der Ernährung: Wäre doch schön, wenn der Gaumen applaudierte.

Oder positiv gewendet: Wie könnte man jetzt einen politischen Geschmack entwickeln? Einen Sinn, der das Richtige auch für gut hält.

Geschmack gilt heute als „Privatsache“. Warum?

Er war nie privat, im Gegenteil. Um den Hunger zu stillen, hat der Mensch die Erde umgebaut, er führt zu Kriegen und Revolten, bis heute – und zuletzt bei der Arabischen Revolution 2011, als die Nahrungsmittelpreise immens gestiegen waren.

Der Appetit, und da ist ein Unterschied, war aber mindestens ebenso einflussreich. Die Jagd nach Salz, die Lust auf Gewürze oder Zucker – Zutaten, die nie direkt der Ernährung dienten, sondern konservieren und aromatisieren: All das setzte gewaltige Energien frei. Über das Salz entstand in Europa ein frühes Handelsnetz, Gewürze waren im 15. Jahrhundert Antrieb, um die Neue Welt zu entdecken, des Zuckerrohrs wegen reichte es nicht mehr, auf dem amerikanischen Kontinent Eingeborene zu versklaven, es mussten Menschen aus Afrika verschleppt werden.

Jedes Gericht, das wir heute essen, ist sozial, historisch und politisch konnotiert. Was man etwa bürgerliche Küche nennt, hat seine Wurzeln in der Französischen Revolution. Und in den neuen Restaurants der nun arbeitslosen Hofköche. Wer dort speiste, durfte sich als König fühlen. Bis heute.

Auf jedem Teller, den wir vor uns stellen, liegt nicht nur große Weltgeschichte, sondern auch individuelle Historie: Erinnerungen an fremde Länder, schöne Ausflüge, an die Kindheit und an Vorfahren. Schlechte Erfahrungen dagegen können uns ein Essen bis zum Ekel verderben – über Generationen. Beispiel: Steckrübeneintopf, die Hungerspeise nach dem Krieg.

Geschmack ist also Kopfsache, hängt mit dem zusammen, wie wir die Signale von Zunge und Gaumen interpretieren. Wer hat da heute die Interpretationshoheit? Leider nicht mehr wir selbst. Es ist die Nahrungsmittelindustrie, die Menschen wie kulinarische Neandertaler behandelt. Sie holt uns bei den Urinstinkten ab.

Was ist der Mensch? Der Homo sapiens, sagen heute Anthropologen, hat sich nur herausbilden können, weil der Urmensch eine Technik entwickelte, seinem Organismus leicht umzusetzende Energie zur Verfügung zu stellen: das Kochen. Wir haben einen Teil des Stoffwechsels nach außen verlagert, eine Ernährung entwickelt, mit der wir nicht den meisten Teil des Tages grasen und wiederkäuen müssen. Oder ruhen, um rohes Fleisch zu verdauen. Gekochte Nahrung kann vom Körper viel leichter aufgenommen werden – und einen Energiebedarf decken, der erst möglich macht, dass ein Hirn so anwächst wie das der selbst ernannten Krone der Schöpfung. Wir kochen, also denken wir!

Die Evolution hat uns deshalb mit einem unersättlichen Energiebedarf ausgestattet. Und das Hirn macht Holla, wenn die Zunge auf Zucker trifft, weil Aussicht besteht, sich sogar einen Energievorrat anfuttern zu können. Die Nahrungsmittelindustrie schafft deshalb Produkte mit immer mehr Zucker. Sie sind übersalzen, enthalten viel zu viel Aromen, dass uns andere Nahrung dagegen „fade“ vorkommt. Das prägt den Geschmack.

Wir haben uns von unseren Lebensmitteln entfremdet. Kinder wissen oft nicht mehr, aus welchem Gemüse Pommes stammen. Erwachsene halten es für unappetitlich, rohe Zutaten zu schneiden. In Italien und Frankreich zieht sich Einmal-Handschuhe an, wer sich im Supermarkt beim Gemüse bedient.

Wie bekommen wir die Interpretationshoheit zurück? Vielen fallen rigorose Antworten ein – Softdrinksteuer (Mexiko), Transfettverbot (USA) und Veggie-Day in Kantinen (Die Grünen). Vorschläge, die prohibitiv sind oder einer Verzichtsmoral folgen. Und die Esser weiter auf Distanz halten zu dem, was sie in den Mund schieben. Wo bleibt der Genuss? Sich zu ernähren ist Moral genug, das wusste schon Brecht.

Es muss anders gehen. Man kann die allgemeine Einseitigkeit nicht überwinden, wenn man sie einschränkt. Wie lassen sich so echte Alternativen für die Zukunft finden? Wer sich darum sorgt, plädiert für kulinarische Intelligenz und einen politischen Hedonismus: Eine Geschmacksschule, in der die Lust nicht zu kurz kommt, in der aber nicht der schnelle Genuss, die regressiv kindliche Befriedigung das Maß aller Dinge ist. Sondern vielleicht sogar die Vermessung des Ekels.

Die Neuerfindung des Appetits wäre ein Freiheitsakt. Erotik statt Porno. Ein Neuanfang, bei dem Herkunft und Produktion eines Gerichts von vornherein mitberücksichtigt werden könnten. Wenn wir erst die Frage, wie und warum etwas schmeckt, neu beantworten, und dann vielleicht auch die Frage, ob etwas schmeckt. Es geht um Universalismus und Diversifikation zugleich. Nur so ist ein anderer Genuss möglich.