: Landluft macht frei
Nebenstelle (5): Vom Leben und Schreiben in der norddeutschen Provinz. In der Stadt vermisst Jochen Missfeldt, den Sternenhimmel, und dem Krach sind seine Ohren nicht gewachsen. Zuhause wollen derweil den Sommer hindurch noch viele Vogelstimmen erkennen gelernt werden
Wo man bei Cechov in der Hoffnung auf das wirkliche Leben nach Moskau rief, rufen und ziehen deutsche SchriftstellerInnen heutzutage in lemminghafter Einhelligkeit nach Berlin. Hieß es nicht einmal: Die Erneuerung kommt von den Rändern? Für die taz nord schreiben SchriftstellerInnen aus der norddeutschen Provinz, was das Wohnen fernab der Metropolen für ihr Schreiben und Leben bedeutet.
Was das Leben auf dem Lande bedeutet, weiß ich genau. Das Wissen sitzt tief und ist längst Teil meines Körpers. Ich habe den Gang, den der Landbewohner geht. Ich greife mit den Beinen weit aus und verbrauche viel Raum. Ähnlich viel Raum verbrauche ich mit den Armen beim Gehen, Stehen und Reden. Ich atme tief ein und aus und verbrauche auch viel Stadtluft. Hier liegt die Ursache für mein Stottern. Meine Kleidung ist die des Landmannes; ich ziehe robustes Zeug an, blaue Doppelripp-Jeans und dunkelgrüne Strickjacken mit großen Knöpfen und Knopflöchern. Ein langer weißer Schal und eine Baseball-Mütze mit dem Wappen meines Heimatkreises runden das Outfit ab.
Wenn ich zum Feierabend, müde von Umtauschaktionen, Anprobieren und Schaufensterkucken, meinen Blick nach oben wende, um den Sternenhimmel des Monats zu betrachten, mache ich das Gesicht des Enttäuschten; denn vom Sternenhimmel sehe ich wegen der in der Stadt herrschenden Lichtverschmutzung nichts. Ich merke auch, dass meine Ohren dem Stadtkrach nicht gewachsen sind, und seit langem hat sich die Angst vor Betrunkenen, Rüpeln und Rowdys in meinem Gesicht niedergeschlagen.
Jetzt schlägt die Stunde des Städters; denn er sagt: „Dir sieht man die Provinz aus zehn Metern Entfernung an.“ (Seit es die Stadt gibt, duzt der Städter den Menschen vom Lande. Ich spreche hier von einem seit über zehntausend Jahren üblichen Duzen!) Das Duzen ist das zur Vollendung Fehlende. Es lässt mich „Gott bewahre“ denken und schweigen und die Stadt verlassen.
Zu Hause warten Post, Telefon, Fax und Computer. Auch der kleine Bach wartet; er fließt mit seinem Revier unterhalb der Terrasse vorbei und bietet Vögeln und Fischen Heimat und Brot. Es wartet der abendliche Maiglanz der Maiblumen. Männertreu, Frauenlob und ein ganz seltener, junger grüner Krokus-Ginkgo – Mitbringsel meiner Nachbarin, um eines schönen Tages zu gedenken – begrüßen mich und wollen begossen werden. Ich sammle verwelkte Tulpenblätter, begutachte ein neues Schattenblümchen, das zielbewusst seinem Leben nachstrebt und nicht unbedingt ans Licht will. Ich sehe, welche Fortschritte in den Bärlauch gewachsen sind. Der soll nämlich demnächst, die Bärlauchzeit ist angebrochen, in einen herrlich schmeckenden Fisch namens Dorade gelegt werden und mit ihm bei zweihundert Grad zwanzig Minuten im Backofen backen.
Der Sternenhimmel entzündet seine Lichter, das Sommerdreieck zeigt sich, der Große Wagen ist von hier aus nicht zu sehen. „Jetzt geht die Natur zur Ruhe“, sagt der Volksmund. Die Amsel hört auf zu singen, fliegt von der Tannenbaumspitze herunter, hin zu ihrem Nest und setzt sich auf ihre Jungen. Ich stelle mein Windlicht auf den Terrassentisch und zünde es mit einem Gasfeuerzeug an. Eine Flasche Wein steht gießbereit, die dänischen Weingläser glänzen. Käse bringt die mir im Laufe der Jahre lieber und lieber gewordene Nachbarin. Sie unterrichtet mich in Vogelstimmenkunde und fragt zwischen Käsehappen und Weinschlucken nach den Tonfolgen der Mönchsgrasmücke, die mir absolut nicht im Gedächtnis bleiben wollen. Zaunkönig-, Amsel-, Buchfink- und Meisenstimme kann ich inzwischen identifizieren. Das von meiner Nachbarin erarbeitete Unterrichtsprogramm für diesen Sommer will noch eine Menge absolviert wissen.
„Wann sind dieses Jahr eigentlich die Schwalben wieder gekommen?“ Das fragt sie plötzlich. Hier kann ich nun Auskunft geben: Es war am 12. April, abends, so um die Tagesschauzeit. Ich habe mir auch den Tag gemerkt, als mir eine Schwalbe durch die offene Terrassentür ins Wohnzimmer flog. Sie flatterte am großen Fenster umher, wollte hinaus und konnte nicht. Ich gab mir einen Schubs, dann traute ich mich, griff sie und hielt sie behutsam fest. „Warm und lebendig“, dachte ich und spürte ihre Flügel und Beine in der hohlen Hand. Dann nahm ich sie mit nach draußen und warf sie in die Luft. Dass der längste Tag des Jahres praktisch schon wieder vor der Tür steht, und dass es dann wieder mit Licht und Tageslänge abwärts geht, das sagen wir nun mit den dafür erforderlichen Worten. Es schwingt ein Bedauern mit, Frau Nachbarin. Andererseits haben wir mit dem über und über besäten Sternenhimmel, der sich unter der langsam heranziehenden Nacht so glanzvoll entwickelt hat, den Trost der Dunkelheit, die uns das Licht sehen lässt. Wer „Gute Nacht“ sagt, muss Bilanz gezogen haben.
„Wie wird das Wetter morgen?“, ist die einzige noch offene Frage. Meine Nachbarin geht in ihr Haus, kein Gartenzaun trennt uns. Abends, am Ende der Woche, am Monats- oder Jahresende ziehe ich gewöhnlich Bilanz. Es geht dabei um eine Überschussrechnung, um Gewinnermittlung. Inzwischen hat sich durch mein lebenslanges Leben auf dem Lande ein hübsches kleines Kapital angesammelt, das ich nicht mit Euro und Cent beziffern kann.
Dieses Kapital will sorgfältig und mit Augenmaß bewirtschaftet werden: „Nichts verschleudern. Nichts zum Fenster rauswerfen“, das ruft mir der Krokus-Ginkgo zu. „Wir kommen wieder“, das zwitschern die Schwalben. „Immer mit der Ruhe“, das steht in den Sternen. So kommt ein Wort zum anderen, und es will aufbewahrt und erinnert werden.