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Archiv-Artikel

„Die Gewerkschaft braucht eine Idee“

Die zerklüftete, flexible Arbeitswelt stellt die Rolle der Gewerkschaften in Frage. Denn Tarif- und Klientelpolitik reichen nicht mehr aus. Deshalb müssen sie sich mehr um prekär Beschäftigte und Arbeitslose kümmern, so Oskar Negt

taz: Herr Negt, Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel „Wozu noch Gewerkschaften?“. Zeigt nicht schon dieser Titel, dass die positive Antwort nicht selbstverständlich ist?

Oskar Negt: Ganz sicher. Man muss die Funktion der Gewerkschaft neu begründen.

Das heißt, man muss erst mal fragen: Was funktioniert nicht mehr mit den Gewerkschaften?

Ja, man muss fragen: Was ist überholt? Manche Dinge sind überholt, weil sie zu einer anderen Zeit große Erfolgsgeschichten waren. Etwa die Tarifpolitik, wenn sie isoliert betrieben wird – die ist heute eine gefährliche Schlinge.

Warum?

In der ganzen Ursprungsphase des Sozialstaates ist der Tarifpolitik der Gewerkschaft vieles entgegengekommen – die gesamte Konzeption der sozialen Marktwirtschaft richtete sich ja gegen die räuberischen Auswirkungen der Marktwirtschaft. Das politische und kulturelle Umfeld war ein anderes und den Gewerkschaften günstig. Heute ist das völlig anders.

Stark waren die Gewerkschaften da, wo sich große Massen an Beschäftigten konzentrierten, die alle etwas Ähnliches machten – in den Fabriken, in den klassischen Büros.

Die Organisationskraft war und ist dort am stärksten, wo es Großbetriebe gab – VW, Daimler, T-Mobile. Die Fixierung auf diese großen Betriebe reicht aber nicht mehr aus. Und es fällt den Gewerkschaften schwer, sich auf die Tendenzen der Fragmentierung und Flexibilisierung einzulassen. Es gibt ja eine Art von Dreiteilung der Gesellschaft: Ein Drittel ist etabliert; ein Drittel ist in einer prekären Zwischenwelt, hüpft von Vertrag zu Vertrag, von Scheinselbstständigkeit zu Projekt; und die dritte Gruppe ist die Armee der dauerhaft Überflüssigen – das sind die Menschen, die eigentlich nicht mehr gebraucht werden.

All das wissen die Gewerkschafter: Sie wissen, dass sie an jene, die in Prekarität leben und an die, die völlig rausgefallen sind, ran müssen. Sie wissen aber nicht, wie. Haben Sie einen Rat?

Das bloße Verteidigen wird immer schwieriger. Nehmen wir nur den jüngst beendeten Streik im öffentlichen Dienst. Die Arbeitgeber haben gesagt, ihr könnt streiken, so lange ihr wollt, und gleichzeitig ist der Legitimationsvorrat der Gewerkschaften langsam aufgebraucht. Mit dem Rücken zur Wand kämpfen, nur zu verteidigen – und sei es eine 38-Stunden-Woche gegen die Arbeitszeitverlängerung –, funktioniert auf Dauer nicht mehr. Die Gewerkschaften müssen zu argumentieren vermögen, dass Arbeitszeitverkürzung unabdingbar ist, weil wir die verbleibenden Arbeitsplätze gerechter verteilen müssen – weil, umgekehrt, Arbeitszeitverlängerung heißt, den jungen Menschen die Arbeitsplätze wegzunehmen. Die Gewerkschaften müssen sich darum viel stärker mit Politik, mit Kultur, mit der Erweiterung des Arbeitsbegriffes beschäftigen. Wir haben heute wieder eine neue Art der Heimarbeit – man ist mit seinem Computer mit der gesamten Welt vernetzt. Die Lebensbedingungen der Menschen müssen viel stärker in die gewerkschaftliche Arbeit einbezogen werden. Es muss sichtbar sein, dass die Gewerkschaften nicht nur eine Klientel vertreten, sondern eine Idee von der Gesellschaft haben, wie sie sein sollte. Das ist entscheidend für ihre Glaubwürdigkeit.

Das „gute Leben“ – ein Thema für die Gewerkschaften?

Gerade in diesem Privatisierungswahn, in dem wir uns befinden, sind kollektive Ansätze unabdingbar für die Existenz des Menschen als gesellschaftliches Lebewesen. Was macht ein Leben in Würde aus? Was heißt Würde für die, die keinen Arbeitsplatz haben? Das sind die Fragen an die Gewerkschaften.

Das klingt fast nach neuen Utopien?

Es gibt diesen objektiven Schein von absoluter Nüchternheit. Aber die geht an den Menschen vorbei. Die Menschen sehen Arbeitslosigkeit als einen Gewaltakt an. Für sie ist es eine Art der Entwürdigung. Und auch die, die Arbeit haben, wünschen sich oft etwas anderes. Kurzum: Viele Menschen empfinden, dass die Verhältnisse entwürdigen. Und diese Themen sind für die Gewerkschaften mindestens so wichtig wie ein tarifpolitischer Kampf um eine Stunde Arbeitszeit mehr oder weniger.

Die Gewerkschaften waren nie ein Bollwerk der Kreativität – schon vor hundert Jahren nicht, da waren sie in der Arbeiterbewegung Heimstatt der Pragmatiker. Warum sollte ihnen nun gelingen, sich in der von Ihnen skizzierten Art neu zu erfinden?

Ich glaube nicht, dass sie das alleine können. Ich plädiere darum auch dafür, dass Gewerkschaften stärker mit NGOs wie Attac oder auch amnesty international zusammenarbeiten. Aber die Gewerkschaften sind etwas Besonderes. Der DGB hat immer noch knapp sieben Millionen Mitglieder. Hier sind Interessensverknüpfungen unmittelbarer als etwa bei den Parteien oder NGOs.

INTERVIEW: ROBERT MISIK