: Das Jo-Jo mit dem Jogi
DFB-Assistenztrainer Joachim Löw muss die deutsche Defensivabteilung auf Linie bringen, damit der WM-Titel in Reichweite gelangt. Im Trainingslager von Genf wird deswegen ganz grundsätzlich geübt
AUS GENF MARKUS VÖLKER
Joachim Löw hat ein Zeitproblem. Seit Monaten schon. Er kann nichts dagegen tun. Am liebsten würde der Assistenztrainer der Nationalmannschaft immer mit Robert Huth und Philipp Lahm, mit Christoph Metzelder und Arne Friedrich üben. Aber das geht nicht. Die Defensiven haben Verpflichtungen in der Bundesliga und der englischen Premier League. Löw, 46, sieht die Glieder der DFB-Viererkette nur selten. „Ich weiß es auch nicht“, antwortet der Co-Trainer auf die Frage, ob die knappe Zeit ausreiche, um die Abwehr bis zur Fußball-Weltmeisterschaft in Schuss zu bringen. „Man müsste eigentlich das ganze Jahr über tagtäglich solche Sachen üben“, sagt er und sieht dabei wider Erwarten ziemlich entspannt aus. Das liegt wohl daran, dass er jetzt ein paar Wochen am Stück mit seinen Verteidigern verteidigen üben kann.
Mit „solchen Sachen“ ist ein ganzes Bündel von Aufgaben gemeint, ein Katalog, den Löws Defensivkräfte in diesen Tagen im Trainingslager von Genf durchgehen. Gefordert wird, dass sie viel kommunizieren in der Kette, kompakt stehen und außerdem das richtige Timing lernen. Löw kann offenbar nicht genug bekommen vom work in progress: „Das ist eine Arbeit, an der permanent gearbeitet werden muss“, verhaspelt er sich ein wenig. Die Abwehrarbeit ist derzeit im gähnend leeren Stadion von Servette Genf zu bewundern; nur eine Hundertschaft Journalisten verfolgt das Treiben. „Komm“, schreit Löw in einer „Sondereinheit“. Er treibt in kurzer Hose selbst den Ball. Rennt mit dem Leder auf die Viererkette zu, die sich vorschriftsmäßig zurückzieht. Dreht Löw ab, nähert das Quartett sich der Mittellinie.
Das Jo-Jo-Spiel mit „Jogi“, wie er im DFB-Lager genannt wird, soll den Titel sichern. Damit keiner schludert, wird Jogi auf dem Platz manchmal richtig gebieterisch und schilt die Spieler. Diesmal hat es Robert Huth erwischt, den Profi des FC Chelsea London, weil er nicht richtig hingehört und statt nach vorn quer gespielt hat. Quer mag Löw gar nicht. Auf einer Pressekonferenz geißelt er das verwerfliche Spiel „in die Breite und die Quere“. Joachim Löw will schnelle Pässe in die Spitze sehen und Verteidiger, die angemessen darauf reagieren. Das verlangt den Abwehrspielern in der deutschen Viererkette einiges ab, gerade in der Hochphase der WM-Vorbereitung. „Verschieben und aufrücken – das ist es, worauf es vor allem ankommt“, sagt Löw, also auf grundsätzliche Dinge. Es überrascht, dass die Basics von der deutschen Fußballelite mit großer Ernsthaftigkeit trainiert werden müssen – so wie der Basketballeinsteiger den Korbleger übt und der Volleyballneuling die Angabe. Die Arbeit am Selbstverständlichen würde Löw sich zwar gerne sparen. Aber so einfach ist das nicht. Er muss Versäumnisse aufholen, Defizite, die auf eine mangelhafte Jugendarbeit zurückgehen und den Starrsinn der Liga.
Überspitzt könnte man sagen: Löw leidet daran, dass das Modell des Liberos in Deutschland so erfolgreich war – und dass der Abwehr-Schrat aus der Mannheimer Schule stets Bestnoten in der Liga bekam. Das hat mythische Figuren entstehen lassen, aber eben auch die Kettenbildung im Viererverbund erschwert. Jahrelang überlebte der Libero in einer simulierten Dreierkette. Noch heute wird in der Bundesliga gern auf diese Variante zurückgegriffen, noch heute findet der verkappte Libero in dieser Nische sein Auskommen. In der Nationalmannschaft aber soll ein 4-4-2-System während der Weltmeisterschaft gespielt werden. Oder alternativ mit vier Verteidigern, drei Mittelfeldspielern und drei Angreifern. In Genf wurde auch am 4-2-3-1-System gefeilt, mit zwei defensiven Mittelfeldspielern, darunter Michael Ballack in der Rolle des kreativen Abräumers.
Nur im Notfall wollen Jürgen Klinsmann und sein Abwehrassistent ein Trio vorm Tor von Jens Lehmann postieren. Somit hat Löw die knifflige Aufgabe, das deutsche Defensivquartett auf Linie zu bringen. Wie an der Schnur gezogen sollen die Spieler dastehen und den gegnerischen Angreifern das Toreschießen vergällen. Als Vorbild dient Löw das Abwehrverhalten des AC Milan unter Trainer Arigo Sacchi, der den italienischen Klub von 1987 bis 1991 trainierte. Der AC hätte es einmal geschafft, den Gegner 35-mal in zwanzig Minuten ins Abseits zu stellen, bemerkt Löw anerkennend: „Mailands Gegner wusste gar nicht mehr, wo er den Ball hinspielen sollte, so verunsichert waren die.“ Wie gern würde er die Teams von Costa Rica, Polen und Ecuador auch so an der Nase herumführen, die Vorrundengegner der Deutschen.
Milans System ist Legende, Löw greift also allenfalls auf Altbewährtes zurück, aber was heißt das schon für eine DFB-Auswahl, die erbittert um gute A-Noten in der Formationsbildung ringt. Anderswo, in Spanien und der Niederlande, seien die Übergänge von der D-Jugend bis zum Erstligateam fließend, hier zu Lande sei das nicht selbstverständlich, bemängelt der Kettenchef, dem selbst die deutschen Tugenden nicht mehr heilig sind. „Wir können uns in Deutschland überall optimieren“, sagt Löw, „und es ist eigentlich auch falsch zu sagen: ‚Zurück zu den deutschen Tugenden.‘ Denn das sind Grundvoraussetzungen im heutigen Fußball.“ Die Spieler jeder noch so kleinen Fußballnation könnten heute schnell rennen und die Räume eng machen. „Das ist so, als ob ich einem Kind sagen würde: Okay, du kannst rechnen, bald wirst du Professor sein.“ Die deutsche Viererkette würde sich schon über ein Abwehrdiplom freuen. Eine Habilitation ist noch nicht in Sicht.