: Die Legende lebt
PREMIERE An der Komischen Oper inszeniert Barrie Kosky den Klassiker „West Side Story“ – dabei kommt er ganz ohne Klischees aus und bringt das Stück von Leonard Bernstein und Jerome Robbins in die Stadt zurück
VON NIKLAUS HABLÜTZEL
Ausverkauft bis Ende Januar: Schon jetzt steht fest, dass die Komische Oper mal wieder den Renner der Saison auf die Bühne gebracht hat. Und die Premiere am Sonntagabend hat die Erwartungen sehr wohl erfüllt, die hinter diesem ziemlich sensationellen Vorverkauf stehen – sensationell deswegen, weil ja keine Superstars des Showgeschäfts auf dem Programmzettel stehen.
Aber vielleicht ist Regisseur Barrie Kosky inzwischen ja auch eine Art Superstar des Unterhaltungstheaters, der ganz allein das Haus füllen kann. Und wenn er das ist, dann ist er es zu Recht. Die „West Side Story“ von Leonard Bernstein und Jerome Robbins ist nun wahrlich kein neues Stück. Die Uraufführung fand 1957 statt, 1961 kam der Film in die Kinos. Beide sind Legende, aber auch nicht mehr als das. Weder Kinos noch Theater haben sie im Programm, und die Kids im Wedding dürften sie kaum noch dem Namen nach kennen.
Kosky und sein Choreograf Otto Pichler geben dieses verblassende Stück Theater auch ihnen zurück: den Straßenkindern, von denen es handelt. Aber ihre Inszenierung biedert sich ihnen nicht an. Sie tanzen wie auf dem Broadway, professionell bis zur Akrobatik. Und „Maria“ oder „Cool“ kommen nicht aus dem Smartphone. Die Hits von gestern werden wirklich gesungen – begleitet von einem veritablen Symphonieorchester.
Trotzdem sind es keine Hits von gestern mehr, sondern Teile eines bemerkenswert originellen Stücks, das in keine der üblichen Schubladen passt. Die Autoren nannten es „Musical“, dafür aber fehlt ihm das Happy End. Es ist ebenso eine Tragödie wie sein literarisches Vorbild „Romeo und Julia“ von Shakespeare. Und seine Musik ist weit mehr als die für dieses Genre typische Folge von Songs und Tänzen. Bernstein hat europäische Moderne, romantische Oper, Jazz und lateinamerikanische Folklore in einer temporeichen Folge komplexer musikalischer Szenen miteinander verbunden.
Nie wieder ist Vergleichbares probiert worden. Barrie Kosky nähert sich diesem Unikat mit Respekt. Er lässt alles weg, was die Konzentration auf das Werk stören könnte. Die Bühne ist leer, von der New Yorker Kulisse der Uraufführung sind nur zwei (senkrechte) Eisenleitern am rechten und linken Bühnenrand geblieben. Ein schwer zu deutender Stahlkäfig, der mitunter von der Decke herabschwebt, erinnert an Feuerleitern in Armenvierteln von Manhattan.
Aber wir sind nicht dort. Die Welt ist eine Drehbühne, auf die Markierungen für ein Basketballfeld gemalt sind. Alles ist schwarz, beleuchtet von harten Spots, die mitunter auch die Zuschauer blenden. Es ist eine Welt der Aggression und des Hasses. Junge Tänzer mit Tattoos und Kapuzenpullis fallen übereinander her, die Drehbühne lässt die Gruppen im Kreis drehen. Wer zu wem gehört, ist nicht zu erkennen – und auch nicht wichtig. Hauptsache, jeder weiß, wer seine Familie ist.
Ohne sie bist du nichts, sagt einmal einer der Jungs. Eine Liebe über diese Grenzen hinweg kann nur scheitern. Julia Giebel als Maria und Tansel Akzeybek als Tony versuchen es trotzdem. Bernstein hat ihnen schöne, zarte Nummern dafür geschrieben, und sie singen sie sehr schön.
Dass aber auch sie, die beide bewährte Mitglieder im Ensemble der Komischen Oper sind, in diesen musikalischen Kontrapunkten zum Tumult der Gewalt elektroakustisch verstärkt werden müssen, ist schwer zu verstehen – und sehr schade. Das Mikrofon zerstört den individuellen, körperlichen Klang der Stimmen, der den Figuren erst den Charakter geben könnte.
Bei den Jungs dagegen, die nur den Straßenkrieg zu kennen scheinen, stört der Lautsprechersound ihrer Stimmen nicht. Der Kontrast zum Klang des glänzend spielenden Orchesters unter der Leitung von Koen Schoots ist sogar reizvoll. Es gibt stürmischen Applaus für alle – verdient angesichts der großartigen Leistung.
In der Komischen Oper ist die „West Side Story“ in die Stadt zurückgekehrt. Im Web hat der Klassiker übrigens eine offizielle Homepage, aber dort werden nur seine Klischees im Multimediaformat von heute gepflegt. Kosky hat das Werk davon befreit. Seine Abstraktion macht es nicht modern. Sie zeigt nur Bernsteins Shakespeare für den Broadway im Original. Der Wedding von heute hat weniger damit zu tun.
■ Weitere Aufführungen u. a. am 28. 11., 30. 11., und 3. 12., jeweils 19.30 Uhr, zum Teil gibt es zurückgegebene Karten | mehr: www.komische-oper-berlin.de