IN MITTE (1) : Der Fluch der Bettlerin
Es ist ein Wochentag und ich habe eine Verabredung am Nachmittag. Ein Eis, eine Ausstellung. Da ich nervös bin, gehe ich früh los. Zu Fuß. Nach Mitte. Ich streife über den Schlossplatz, über die Holzwiese, irritiert von Pieptönen, die mich an einen Tinnitus erinnern. Eine Soundinstallation. Links buddelt man nach alten Steinen, rechts picknicken Touristen, dahinter steht eine Holzwand und versperrt die Sicht auf die Spree. Was seltsam ist. Wer sich das bloß wieder ausgedacht hat? Kann nur ein Wasserfeind gewesen sein.
Im Lustgarten kommt mir eine Bettlerin entgegen und hält die Hand auf. Ich weise sie ab. Sie schimpft mir auf Bulgarisch oder in sonst einer mir nicht geläufigen Fremdsprache hinterher. Es klingt wie ein Fluch. Der Fluch der abgewiesenen Bettlerin. Ich hatte vergessen, dass der Aberglaube sagt, dass man vor einem Rendezvous die Gunst der Götter mit Almosen bestechen sollte. Vorbei. Chance vertan.
Ich bin früh dran. Ich erreiche die Friedrichsbrücke. Jemand geht mit einem 16-Uhr-Schild herum, wie zum Hohn, denn für 16 Uhr waren wir verabredet. Aber just als ich den Dom passierte, kurz nach der Bettlerin, kam die SMS mit der Absage. Es kam was dazwischen. Das Pech geht weiter.
Entmutigt überlasse ich mich den Eindrücken und fühle mich zu Hause als Tourist oder umgekehrt. Jenseits der Museumsinsel. Eine Frau lehnt an einem Baum und holt ein Steinchen aus ihrem Schuh. Der Mann mit dem 16-Uhr-Schild geht an Bord seines Flüsterschiffs. Die Rundfahrt beginnt. An Bord sitzen bleiche Rentnerinnen und freuen sich auf Filterkaffee aus Thermoskannen. Die Sonne hält drauf.
Ein Schiffchen namens Nostalgie treibt vorbei, eine verwehte Lautsprecherstimme sagt etwas, was wie „Die Stadt wird südwärts gerückt, der Fluch ist vorbei?“ klingt. Es besänftigt mich. Ich kaufe eine Ansichtskarte und schreibe ihr. Mit Gruß aus Mitte.
RENÉ HAMANN