: Junkfood für die Boulevardmeute
ESC 2011 Dass Lena nächstes Jahr noch mal antritt, ist so wahrscheinlich wie ein religiöses Wunder
Warum fragte bloß keiner nach? Weshalb kam niemand von den Journalisten auf die Idee, dass Stefan Raab über vielfältige Talente verfügt – und eben auch über jene, von Dingen abzulenken? Tatsächlich ist der Plan, Lena Meyer-Landrut im kommenden Jahr beim 56. Eurovision Song Contest (ESC) in Deutschland – Hamburg, Berlin, Hannover, Köln?, alles offen! – ihren Titel verteidigen zu lassen, so ein Unfug, wie etwas nur quatschig und absurd sein kann.
Wieso? Weil nicht umsonst Chanteusen wie Vicky Leandros (1972 mit „Après toi“) oder Nicole (1982 mit „Ein bisschen Frieden“) alle Offerten auf neuerliche Teilnahmen abgelehnt haben – höher kann man, was diese Arena der Performance betrifft, nicht emporsteigen. Jeder neuerliche Versuch muss immer wie ein Aufguss des Alten wirken, das Risiko, zu scheitern, ist enorm. Wie sähe das auch aus: zu scheitern? Gleichwohl haben es in Deutschland Margot Hielscher (1957 und 1958) und Katja Ebstein (1970 und 1971) in zwei aufeinander folgenden Jahren beim ESC probiert – allerdings nicht als Siegerinnen.
Auch Lena Meyer-Landrut wird nach allem, was in der Logik der Sache ist, 2011 nicht wieder als Konkurrentin auf die Bühne des Grand Prix Eurovision steigen, allenfalls als Repräsentantin in eigener Sache, als Schmuckauftritt zu Beginn der Show. Denn NDR und ProSieben haben ja längst verabredet, das Konzept „Unser Star für XXX“ auch im kommenden Jahr zu inszenieren – mit der Chance für jemanden anders, zum Star zu werden. Und die zweite deutsche Eurovisionsgewinnerin erfüllt dieses Kriterium nicht, denn sie ist bereits ein Star und wird es wohl noch sehr viele Jahre bleiben. Eine Ausnahme gibt es in der ESC-Geschichte tatsächlich: Johnny Logan, der Ire, gewann zweimal als Interpret und einmal außerdem als Komponist und Texter – das war in den Jahren 1980, 1987 und 1992 –, aber zwischen diesen Triumphen lagen jeweils mehrere Jahre. Raab, dessen Leistung (wie die der Teams beider TV-Sender) nicht hoch genug geschätzt werden kann, nämlich die Schmutz- und Gossenbedürfnisse von Bild-Zeitung, RTL und anderen Medien weitgehend frustriert zu haben, hat diesen Vorschlag aus ebendiesem medialstrategischen Grund gemacht: um diese Meute von Lena Meyer-Landrut abzulenken. Sollen sie sich um Obskures oder Scheinrelevantes kümmern – nicht jedoch um schlüpfrige Dinge des Lebens rund um einen weiblichen Popstar. Dass Lena Meyer-Landrut also abermals antreten wird, ist ungefähr so wahrscheinlich wie ein religiöses Wunder – man kann auf es hoffen, spekulieren gar, aber es wird nicht eintreten.
Dass jetzt ein Hype um die Performerin entsteht, inzwischen in europäischen Dimensionen, ist im Übrigen auch nur logisch. Allen Acts, die in einer Sonderklasse spielen, ging es ebenso, etwa den Beatles, Madonna, Grönemeyer, Peter Fox, Nena (den letzten drei zumindest in Deutschland), das Publikum will an ihren Hervorbringungen teilhaben, die empfundene Magie bewahren – so lauten die Gesetze des Entertainments. Dass sich aber Lena Meyer-Landrut durch ein Resultat, das nicht der neuerliche ESC-Gewinn wäre, selbst schaden würde, ist, gemessen an dem, was gedanklich von ihr bekannt ist, abenteuerlich.
Stefan Raab wird nicht riskieren, seine von ihm mitentdeckte Kandidatin neuerlich einem Wettkampf auszusetzen, bei dem das Risiko, zu scheitern, größer ist als aller Gewinn, der möglich wäre. Im Übrigen kann Lena ihren Titel beim ESC nicht verteidigen, weil sie ihn streng genommen gar nicht gewonnen hat: Gewinner sind, wenigstens auf dem Papier, Komponisten und Texter. Der publizierte Vorschlag des TV-Total-Moderators ist ein Ablenkungsmanöver – Futter für die Meute, Junkfood. JAN FEDDERSEN
■ Der Autor ist taz-Redakteur, beschäftigt sich seit 1989 mit dem Grand Prix und hat mehrere Bücher darüber geschrieben, zuletzt „Wunder gibt es immer wieder“ (Aufbau, 2010). Er bloggt und arbeitet frei für den Grand-Prix-Sender NDR