Die Welle reiten, die durchs Leben rollt

AUFRICHTIGKEIT Nichts auslassen, sich ungeschützt und offen sein eigenes Leben erschreiben, in all seiner Fülle, mit all seinen Widersprüchen: das ist der Antrieb des groß angelegten Romanprojekts von Karl Ove Knausgård. Nach „Lieben“ und „Sterben“ ist nun der dritte Band, „Spielen“, auf Deutsch herausgekommen

VON EVA BEHRENDT

Wahrscheinlich hatte ich selber gerade eine Windel gewechselt oder die Hälfte der Pasta vom Boden gewischt, als ich bei Karl Ove Knausgård diese Sätze las: „Es ging nicht darum, dass ich keine Lust hatte, den Fußboden zu putzen oder Windeln zu wechseln, sondern um etwas Fundamentaleres, dass ich in dem mir nahen Leben keinen Wert erblickte, mich stattdessen unablässig fortsehnte und dies schon immer getan hatte. Das Leben, das ich führte, war folglich nicht mein eigenes. Ich versuchte, es zu meinem zu machen, das war der Kampf, den ich ausfocht, denn das wollte ich doch, aber es gelang mir einfach nicht.“ Ich fühlte mich ertappt, verstanden, wollte aber auch widersprechen. Lehnte sich Knausgård nicht auch auf Kosten des ihm nahen Lebens ganz schön weit aus dem Fenster?

Ausgerechnet „Mein Kampf“ (norwegisch „Min Kamp“) heißt der Autobiografieroman, mit dem Karl Ove Knausgård, geboren 1968 in Oslo, in Skandinavien und weit darüber hinaus berühmt geworden ist. Sechs Bände à sechs- bis achthundert Seiten unterstreichen die Dringlichkeit von Knausgårds Anliegen; denn der Weg, sein Leben zu seinem eigenen zu machen, besteht für ihn darin, es aufzuschreiben. So ungeschützt und offen – und das heißt manchmal auch: aggressiv – wie möglich. Eltern, Geschwister, Ehefrauen, Freunde, Kinder und Kollegen – sie alle tauchen mit Klarnamen auf und werden samt psychischen Krankheiten oder Alkoholismus so geschildert wie der Autor, der auch sich selbst nicht mit Samthandschuhen anfasst, sie wahrnimmt oder erinnert. Nicht überall ist so viel radikale Subjektivität auf Begeisterung gestoßen: Ein Teil der Verwandtschaft wandte sich ab, in einer schwedischen Zeitung wurde Knausgård mit dem Mörder Anders Breivik verglichen.

Ein geradezu grotesker Vergleich. Denn auch wenn Knausgårds Schreibobsession ihn immer wieder zum sozialen Rückzug zwingt, er seine Rolle als emanzipierter „neuer Vater“ eher erduldet als genießt: Seine Flucht vor der Wirklichkeit führt in keine Ideologie, ja noch nicht mal ins Reich der Utopie. Sondern mitten in den Rhythmus aus „sinnvoll, sinnlos, sinnvoll, sinnlos“, ins Herz jener „Welle, die durch unser Leben rollt und seine grundlegende Spannung bildet“, wie Knausgård im gerade auf Deutsch erschienenen dritten Band, „Spielen“, schreibt. Darin erinnert sich der Autor an seine Kindheit in einer Siedlung auf der südostnorwegischen Insel Tromøya, an die abenteuerlichen Erkundungen der umliegenden Wälder, an Schule und Sportstunden, die Schönheit der Natur und an das Klima der Angst, das sein autoritärer, unberechenbarer Vater verbreitete.

Der Vater säuft sich zu Tode

Knausgård-Fans kennen diesen Vater schon aus den ersten beiden Bänden: Mit vierzig – also ungefähr im selben Alter, in dem Knausgård „Mein Kampf“ zu schreiben beginnt – verabschiedet er sich sukzessive aus seinem bürgerlichen Lehrerleben. Er gründet eine zweite Familie, fängt an zu trinken und säuft sich schließlich in einer Hausgemeinschaft mit seiner Mutter zu Tode und hinterlässt ein unvorstellbar verdrecktes Haus („Sterben“). Kurz zuvor hat sein Sohn Karl Ove, der sich schon als Kind zeitweise verzweifelt den Tod des Vaters gewünscht hat, selbst eine Familie gegründet und mit seiner schwedischen Frau Linda drei Kinder bekommen, um die sich die beiden gleichberechtigt zu kümmern versuchen („Lieben“). Eine Erfahrung, die ihn noch einmal anders auf seinen Vater blicken lässt.

Und doch ist das schwierige Verhältnis zu diesem Vater nur ein Motiv in Knausgårds umfassendem Projekt. „Wenn der Überblick über die Welt größer wird, schwindet nicht nur der Schmerz, den sie verursacht, sondern auch der Sinn. Die Welt zu verstehen heißt, einen bestimmten Abstand zu ihr einzunehmen. Was zu klein ist, um mit dem bloßen Auge wahrgenommen zu werden, wie Moleküle und Atome, vergrößern wir, und was zu groß ist, wie Wolkengebilde, Flussdeltas, Sternbilder, verkleinern wir. Wenn wir den Gegenstand so in die Reichweite unserer Sinne gebracht haben, fixieren wir ihn. Das Fixierte nennen wir Wissen. In unserer Kindheit und Jugend streben wir danach, den korrekten Abstand zu Dingen und Phänomenen einzunehmen. Wir lesen, wir lernen, wir erfahren, wir korrigieren. Dann gelangen wir eines Tages an den Punkt, an dem alle notwendigen Abstände bestimmt, alle notwendigen Systeme etabliert sind. Es ist der Punkt, an dem die Zeit schneller zu vergehen beginnt“, heißt es in „Sterben“. Und dann folgt ein Satz, der im Kern auch Knausgårds an der Romantik geschulte Poetik enthält: „Sinn erfordert Fülle, Fülle erfordert Zeit, Zeit erfordert Widerstand. Wissen ist Abstand, Wissen ist Stillstand und der Feind des Sinns.“

Knausgårds Kunst besteht nicht wie so oft darin, alles Überflüssige wegzulassen, sondern im Gegenteil darin, so wenig wie möglich auszulassen. Auch das (scheinbar) unwichtige Detail ist Teil, ja Bedingung des Lebens in seiner unerschöpflichen Vielfalt. So schildert der Autor in „Sterben“ provozierend und auch ermüdend konkret, wie er und sein Bruder das restlos versiffte, unter Flaschen, Müll und Exkrementen begrabene Haus des Verstorbenen ausmisten. In der akribischen Auflistung von Müllbestandteilen und Putzmitteln, in der zeitlichen Dehnung dieses merkwürdigen Exorzismus gewinnt der Trauerprozess Gestalt.

In „Spielen“ protokolliert Knausgård auf fast 50 Seiten einen Winternachmittag, den der etwa achtjährige Karl Ove mit seinem Freund Geir beim geliebten Schwimmtraining verbringt. Das Wetter, die Lichtverhältnisse, Räume, Gerüche und Gefühle, all das fließt ein in den Sog des unprätentiösen Erzählens. In der Umkleide merkt Karl Ove, dass ihm eine Socke fehlt, er sucht sie überall: im Spind, in seiner Tasche, unter den Bänken. Mit keinem Wort erwähnt Knausgård die Panik, aber sie ist spürbar. Durch das Suchen verpassen die Jungen den Bus nach Hause, umso tiefer versenken sie sich in den rituellen Süßigkeiteneinkauf. Nach einem langen Exkurs über den Geschmack verschiedener Bonbonfarben und Lakritzsorten kehrt Karl Ove heim, versucht umsonst, den nackten Fuß vor seinem Vater zu verbergen, wird am Ohr gepackt, angebrüllt und kassiert – „weil du anscheinend noch nicht erwachsen genug dafür bist“ – ein Schwimmtrainingsverbot, auf dessen Einhaltung schon nach zwei Wochen keiner mehr achtet. Knausgård interessiert sich nicht für Psychologie, sondern dafür, wie dicht Glück und Unglück, Angst und Seligkeit beieinanderliegen.

Ekel vor Ausgedachtem

Dennoch fällt „Spielen“ hinter „Lieben“ und „Sterben“ zurück. Der gegenwärtig schreibende Schriftsteller Knausgård, der sich in den ersten beiden Bänden immer wieder reflektierend zu Wort gemeldet hat, zieht sich hier sehr zurück. Dadurch wirken seine Kindheitserinnerungen konventioneller, romanhafter als „Sterben“ und „Lieben“. Dort schreibt Knausgård einmal, dass er in den letzten Jahren „mehr und mehr den Glauben an die Literatur verloren“ hat. Er verspüre Ekel vor allem Ausgedachten, den inflationär gewordenen Fiktionen mit ähnlichem Realismusgehalt, die unser Leben überspülen. „Das Einzige, worin ich einen Wert erblickte, was weiterhin Sinn produzierte, waren Tagebücher und Essays, die Genres in der Literatur, in denen es nicht um eine Erzählung ging, die von nichts handelten, sondern nur aus einer Stimme bestanden, der Stimme der eigenen Persönlichkeit, einem Leben, einem Gesicht, einem Blick, dem man begegnen konnte. Was ist ein Kunstwerk, wenn nicht der Blick eines anderen Menschen?“

Die Betonung der schonungslosen Aufrichtigkeit und des Authentischen, das Desinteresse an Form und Verdichtung: natürlich steckt etwas zutiefst Protestantisches in Knausgårds Prosa (Peter Praschl hat es in der Welt „ethisches Schreiben“ genannt). Genau diese Haltung unterscheidet seinen „Kampf“ von Prousts eleganter „Recherche“. Indem Knausgård alle Abstände und Ökonomien zum Teufel jagt, errichtet er vor uns Lesern den Kosmos seines Menschenlebens. Der Fiktionalisierung entgeht auch Knausgårds Schreiben nicht, das weiß er. Aber er inszeniert seine Wahrheit tatsächlich auf Augenhöhe mit seinen Lesern. Er lehnt sich nicht zu weit aus dem Fenster – eher lehnt er sich zu uns herüber. Deshalb geschieht etwas Großartiges: Im unwillkürlichen Ab- und Vergleichen beginnen wir, eine zweite Geschichte zu erzählen. Es ist die unseres eigenen Lebens, in seiner ganzen Fülle und Widersprüchlichkeit.

Karl Ove Knausgård: „Spielen“. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, München 2013, 576 Seiten, 22,99 Euro