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Archiv-Artikel

Charlotte Knobloch ist Favoritin

Die 73-jährige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in München hat beste Chancen, Nachfolgerin von Paul Spiegel an der Spitze des Zentralrats der Juden zu werden

BERLIN taz ■ Offiziell ist noch nichts, aber die Anzeichen mehren sich, dass Charlotte Knobloch beste Chancen hat, Nachfolgerin von Paul Spiegel als Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland zu werden. Die 73-jährige Vizepräsidentin des Zentralrats leitet seit 1985 die mit rund 9.000 Mitgliedern zweitgrößte jüdische Gemeinde Deutschlands, die Israelitische Kultusgemeinde in München.

Spiegel war Ende April 68-jährig an Leukämie und Folgekomplikationen einer Operation in einem Düsseldorfer Krankenhaus gestorben. Am Sonntag hatte es – nach Ende der jüdischen Trauerzeit – eine Gedenkfeier zu seinen Ehren in Düsseldorf gegeben, zu der fast die gesamte Staatsspitze erschienen war, darunter Bundespräsident Köhler und Bundeskanzlerin Merkel.

Bereits unmittelbar nach Spiegels Tod, der den Zentralrat sechs Jahre lang geführt hatte, gab es erste Spekulationen, dass Knobloch eine heiße Kandidatin für das Spitzenamt des Zentralrats ist. Die politische Vertretung des Judentums in Deutschland vertritt bundesweit 87 Gemeinden mit etwa 110.000 Mitgliedern. Schon bei der Wahl Spiegels im Jahr 2000 war Knobloch als mögliche Zentralratspräsidentin genannt worden – dass sie dann doch nicht vom Präsidium des Zentralrats gewählt wurde, hatte sie damals gekränkt. Am 7. Juni hat sie nun eine zweite Chance, doch noch als erste Frau an die Spitze des deutschen Judentums zu gelangen.

Der Generalsekretär des Zentralrats, Stephan Kramer, erklärte gestern, es sei „falsch“, dass sich die derzeit acht Präsidiumsmitglieder intern schon auf Knobloch geeinigt hätten. Es habe hierzu keine Besprechung gegeben. Hinter vorgehaltener Hand aber heißt es im Zentralrat, dass Knobloch mit großer Wahrscheinlichkeit zur neuen Präsidentin gewählt wird. Ihre Amtszeit ginge zunächst bis Anfang Dezember, ehe ein neu gewähltes Präsidium sie erneut für vier Jahre bestätigen müsste – wovon jedoch auszugehen ist.

Salomon Korn, der Gemeindevorsitzende der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main, war nach Spiegels Tod auch häufiger als möglicher Nachfolger von Spiegel genannt worden. Der 62-jährige Architekt, ebenfalls Vizepräsident des Zentralrats, hätte nach übereinstimmenden Einschätzungen zwar viel Unterstützung für die Übernahme des Präsidentenamts. Der Intellektuelle hat aber offensichtlich wenig Lust, die kommenden Jahre den frei gewordenen Knochenjob zu übernehmen, der zudem mit permanentem Polizeischutz verbunden ist. Weder er noch Knobloch waren gestern für eine Stellungnahme zu erreichen. Sollte Knobloch Präsidentin werden, gilt der Schuldezernent der Frankfurter Gemeinde, Dieter Graumann, als wahrscheinlicher neuer Vizepräsident.

Knobloch genießt in den jüdischen Kreisen hohes Ansehen, da sie sich in München über Jahrzehnte als zuverlässige Managerin der Gemeinde profiliert hat. Außerdem kommt ihr zugute, dass sie – anders als Korn – noch zur Erlebnisgeneration des Holocaust gehört. Knobloch hatte, der Vita Spiegels ähnlich, als angeblich katholisches Mädchen in einer fränkischen Bauernfamilie überlebt. PHILIPP GESSLER