: Ein völlig neues Ding
Wer wissen will, wie integrationsfähig die deutsche Mehrheitsgesellschaft wirklich ist, der sollte Karsten und Vildan Schultze kennen lernen. In ihrer Familie wird der deutsch-türkische Alltag nicht beargwöhnt, sondern gelebt
von EDITH KRESTA
Der Blick aus der Altbauwohnung im vierten Stock fällt auf die helle Lichterkette der Karl-Marx-Straße, die sich vom Hermannplatz durch den Neuköllner Kiez schlängelt. Karsten (41) und Vildan Schulze (37) haben sich unkonventionell eingerichtet. Plüschiges und Antikes steht neben Praktisch-Modernem. Die großzügigen Räume mit den abgeschliffenen Dielen stehen offen, die Söhne Timo (4) und Lemmy (11 Monate) haben überall ihr Reich. Seit zehn Jahren ist das Paar verheiratet.
„Wir haben uns in der Diskothek Far Out kennen gelernt. Es ging relativ zäh los“, erzählt Karsten, während er vergeblich versucht, den schreienden Lemmy zu beruhigen. „Ich habe die Frau gesehen und habe mir gedacht: Die muss ich ansprechen! Dann bin ich stundenlang rumgelaufen um den Quark, bis ich es endlich gewagt habe.“
Zunächst ohne Erfolg. Die Freundin im Schlepptau von Vildan ließ ihn abblitzen: „Was willste denn von der, wir sind sowieso lesbisch, wir sind zusammen.“ Damals wusste Karsten noch nicht, dass dies „so ein typisches Ding“ ist, mit dem türkische Mädchen auf Männer reagieren, die anbändeln wollen. Obwohl er schon zuvor mit einem türkischen Mädchen befreundet war. Vildan entsprach seinem Schönheitsideal, sie war sein Typ: „Also, eine bestimmte Affinität zu Türken, zu diesem Kulturkreis, hatte ich schon in der Schule in Zehlendorf, wo wir immerhin drei Türken in der Klasse hatten. Ich war neugierig“, sagt Karsten.
Der gelernter Schornsteinfeger machte mit 24 das Fachabitur nach. Er hat sich in zahlreichen Berufen, als Tischler und Mechaniker, sein Geld verdient. Heute gehört ihm eine Bodenbelagfirma mit zehn Angestellten. „Ich habe auch eine Zeit lang in einer türkischen Handwerksfirma in Kreuzberg gearbeitet. Irgendwie gefallen mir diese Menschen besser. Es gibt mindestens genauso viele Arschlöcher wie bei den Deutschen. Ich bin mitnichten zum Gutmenschen mutiert. Der Blick hat sich nicht getrübt. Aber mir gefällt diese Herzlichkeit bei den Türken, dass man sich hilft, dass man zusammenhält, dass man sich auch finanziell unterstützt. Das Egoistische hat mich immer gestört bei Deutschen. Das gibt es bei Türken auch, aber die halten mehr zusammen.“
Immerhin schaffte er es an diesem ersten Abend, die Telefonnummer mit Vildan auszutauschen, aber sie trafen sich erst drei Monate später wieder. Zufällig. Im Far Out. „Dann ging alles los. Wir haben uns sehr, sehr gut unterhalten“, erinnert sich Karsten, der den kleinen Lemmy mit dem Schnuller mühsam zur Ruhe gebracht hat.
„Es war nicht Liebe auf den ersten Blick“, wirft Vildan ein. Die schlanke Frau trägt Jeans, einen schwarzem Pulli und offene schwarze Haare. Sie bereitet den Brei für den quengelnden Sohn: „Ich kann doch nicht jemanden lieben, den ich nicht kenne. Aber er hat mir gefallen. Er ist sehr großzügig, seine Art, wie er mit Menschen umgeht, seine Überzeugungskraft.“ Das Anbändeln zog sich dennoch etwas hin, und es dauerte zwei Jahre, bis sie sich der Familie gegenüber offenbaren konnten.
„Vildan war damals 27 Jahre alt und lebte zu Hause in einer traditionellen, strengen türkischen Familie. Es war schon so, dass der Bruder abends geguckt hat, wo die Schwester bleibt“, erinnert sich Karsten. Also mussten sie sich heimlich treffen, auch wenn die Brüder von Vildan nach und nach eingeweiht wurden. „Ich habe Vildan dann irgendwann gefragt, ob wir nicht heiraten wollen. Sie hat gleich ja gesagt“, erzählt Karsten.
Beiden war klar, dass sie einen Antrag vor Vildans Familie strategisch einfädeln mussten. „Meiner Familie gegenüber war es ein großer Schritt, einen deutschen Mann zu heiraten“, betont Vildan. Ihr Vater hat 30 Jahre bei Mercedes gearbeitet, mit 49 Jahren ging der fromme Muslim auf Pilgerfahrt nach Mekka. Auch der jüngere Bruder ist streng gläubig, er hat eine junge Frau aus der Türkei geheiratet. Karsten konvertierte zum Islam und ließ sich beschneiden. „Ich war ja schon Jahre vorher mit einer türkischen Frau zusammen. Und da habe ich mich schon stark abgearbeitet an diesem Thema. Bei der zweiten Beziehung wusste ich schon mehr. Da habe ich gesagt: Ist mir doch egal, streicht mich ruhig grün an.“
Was wäre passiert, wenn der Vater seine Erlaubnis nicht gegeben hätte? Vildan überlegt kurz: „Dann hätte ich mich seiner Entscheidung gebeugt.“ Ein Zerwürfnis mit der Familie hätte sie nicht riskiert. „Wenn er mich aber mit irgendjemandem verheiraten wollte, dann wäre ich abgehauen“, sagt die resolute Frau.
Das Verhältnis zu Vildans Familie ist gut. Regelmäßig besucht das Ehepaar die Eltern, die nach der Pensionierung des Vaters in die Türkei zurückgekehrt sind und sich in einem kleinen Dorf bei Istanbul niedergelassen haben. Sie pflanzen dort Oliven. Alle drei Kinder sind in Deutschland geblieben. Schwierig fand Karsten seine Probezeit in der Schwiegerfamilie kurz nach der Hochzeit: „Das war schon verdammt eng. Sie wollten mich sehr in ihre Kultur einbinden. Und ich musste ein Vertrauensverhältnis aufbauen. Irgendwann nach einem Jahr hat es dann nachgelassen.“ Auch zu Vildans Brüdern hat Karsten ein gutes Verhältnis: „Ich denke, wir wissen, was wir voneinander zu halten haben. Die wissen mich einzuschätzen. Eine gute Eigenschaft der Türken: Gewisse Dinge blenden sie einfach aus.“
Vildan hat eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann und Fachabitur. Sie arbeitete in kleineren Jobs, hier und da, baute als Tochter eines Tischlers mit Karsten Wohnungen um, trug Post aus und organisierte eine Putzfirma. Nach der Heirat betreute sie das Büro von Karsten. Heute ist sie Hausfrau.
„Beruflich hätte ich mich gerne weiterentwickelt“, gesteht sie. „Aber ich habe getändelt. Als Jugendliche durfte ich nicht weg. Dann hatte ich als Studentin Nachholbedarf.“ Im Gegensatz zu vielen ihrer türkischen Freundinnen, die nie einen deutschen Mann geheiratet hätten, fühlt sich Vildan vor allem durch die Grundschule deutsch geprägt: „Es gab türkische Begriffe, die konnte ich nicht einordnen, da haben die Türken mich ausgelacht. Aber Ausgehen und Weggehen war sehr streng bei uns.“ Die türkischen Familien, überlegt sie, hätten immer noch das gleiche Denken wie damals in den Sechzigerjahren, als sie hierher kamen: „Da entwickelt sich nichts“, sagt Vildan, „das ist in der Türkei ganz anders, viel weiter. Die Mädchen dürfen Freunde haben, meine Cousine in Istanbul zum Beispiel. Vor meinen Eltern wurde das immer geheim gehalten. Die türkischen Familien hier sind irgendwie stehen geblieben.“
Die zweite Generation, da sind sich Karsten und Vildan einig, stehe irgendwo dazwischen – halb deutsch, halb türkisch. „Die dritte Generation müsste eigentlich hier verwurzelt sein. Aber manchmal hat man den Eindruck, die wollen nicht so werden wie die zweite Generation, die nicht weiß, wohin sie gehört.“
Die dritte Generation suche ihre Wurzeln daher verstärkt in einer Rückkehr zu Religion und Tradition, weiß Karsten und fügt hinzu: „Was wir jetzt leben, das ist ein völlig neues Ding. Wir sind eine Mischung aus beiden Kulturen, die sehr tolerant sein wird. Wir werden weder dem einen noch dem anderen Kulturkreis richtig zuzuordnen sein. Es ist neu. Ich finde das super!“
Was sein Sohn Lemmy davon hält, bleibt sein Geheimnis – er ist inzwischen satt und zufrieden auf Karstens Schulter eingeschlafen.