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Archiv-Artikel

Ihre Widersprüche, Herr Präsident

Eine Antwort auf den Brief von Irans Präsident Ahmadinedschad an US-Präsident Bush: Lassen Sie Ihre Studenten nicht nur Fragen stellen, sondern auch Antworten geben!

Sie haben Recht: Der Westen verbraucht die Ressourcen, die eigentlich allen Menschen zustehenDen Hinterbliebenen des 11. 9. sprechen Sie Ihr Mitgefühl aus und verhöhnen die Holocaust-Überlebenden

Mitglieder des deutschen „Think Tank 30“ haben auf den Brief des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad, in dem er von US-Präsident Bush einen Dialog fordert, eine Antwort geschrieben. Der Think-Tank ist ein eigenständiges Netzwerk junger Menschen in den Zwanzigern und Dreißigern unter dem Dach der Deutschen Gesellschaft Club of Rome. Wir dokumentieren Auszüge.

Sehr geehrter Herr Präsident,

Sie haben dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika einen Brief geschrieben. [Er] hat Ihnen bisher nichts erwidert. Wir glauben, dass die von Ihnen angesprochenen Probleme zu schwerwiegend sind, um unbeantwortet zu bleiben. Darum antworten wir Ihnen – nicht als die Fürsprecher oder Verteidiger des amerikanischen Präsidenten, sondern als laizistische Europäer, die die Politik der Europäischen Union, der Vereinigten Staaten und die der islamischen Länder mit einem kritischen Auge betrachten.

In Ihrem Brief sprechen Sie von Ihren Studenten. Wie diese sehen wir die Widersprüche, in die sich die Regierungen der Welt verwickeln. Wie allen jungen Menschen liegt uns eine Welt am Herzen, in der Frieden und Gerechtigkeit herrschen. Wie alle kritischen Menschen sorgen wir uns, dass die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird.

Sie haben Recht, wenn Sie die Verbrechen anprangern, die die Vereinigten Staaten in Lateinamerika zu verantworten haben. Sie haben Recht, wenn Sie das Gefangenenlager in Guantanamo Bay kritisieren, das weder rechtsstaatlich noch moralisch hinnehmbar ist. Sie haben Recht, wenn Sie die zivile Nutzung von Kernenergie für Ihr Land und jedes andere Land fordern, sofern sie kontrolliert ist. Sie haben Recht, wenn Sie verurteilen, dass der Westen rücksichtslos einen Großteil der natürlichen Ressourcen verbraucht, die allen Menschen zustehen.

Nur: Was Sie am Westen und speziell an den Vereinigten Staaten anprangern, wird dort ebenfalls kritisiert – von Privatleuten und Mandatsträgern, von Organisationen, von Parteien und von den Medien. Die Grundlage dafür bildet eine kritische Öffentlichkeit. Die Stärke von Demokratien ist gerade, sich im Spiegel der Meinungsfreiheit die eigenen Schwächen vor Augen zu führen.

Garant der kritischen Öffentlichkeit ist eine freie Presse, die keiner anderen Autorität untersteht als der Wahrheit. Sie fordern von den Medien die „korrekte Verbreitung von Informationen und wahrheitsgetreue Berichte“. Die westlichen Medien tun dies in den meisten Fällen. Manchmal finden sich in den Nachrichten Auslassungen, Verzerrungen, bewusste Zuspitzungen und absichtliche Fehlinformationen. Diese kommen aber früher oder später ans Licht. Denn man kann nie alle Spuren verwischen, nie alle Hinweise fälschen und nie alle Zeugen bestechen. Die Wahrheit kommt ans Licht, weil der Einzelne wahrheitsliebend ist und weil die Medien sich selbst kontrollieren.

Wie Ihre Studenten sehen wir Widersprüche – und zwar auch bei Ihnen. Ist es nicht ein Widerspruch, wenn Sie die parteiische Berichterstattung der amerikanischen Medien kritisieren und zulassen, dass in Ihrem Land Dissidenten verfolgt und unliebsame Journalisten gefoltert werden? Ist es nicht ein Widerspruch, wenn Sie die Wissbegierde Ihrer Studenten loben und gleichzeitig das Internet so scharf zensieren wie kaum ein anderes Land?

Sie schreiben, dass Ihre Studenten Sie zu Israel befragen. Darauf können Sie antworten: Ein demokratischer Staat und seine Bürger haben ein Existenzrecht ungeachtet der Tatsache, ob dieser Staat seit Jahrhunderten besteht oder gestern erst geschaffen wurde. Jeder demokratische Staat hat die Pflicht, andere Demokratien zu unterstützen und zu schützen – vor allem, wenn sie bedroht werden.

Der Holocaust, der von Deutschen begangen wurde, hat über sechs Millionen Menschen das Leben gekostet. Angesichts unzähliger Augenzeugenberichte, historischer Dokumente und weltweiter unabhängiger Geschichtsforschung ist es zynisch, diese Fakten in Zweifel zu ziehen. Persönliche Einschätzungen sind verhandelbar, die Wahrheit ist es nicht. Ist es daher nicht ein Widerspruch, wenn Sie den Hinterbliebenen des 11. Septembers Ihr Mitgefühl aussprechen und gleichzeitig die Überlebenden des Holocausts verhöhnen, indem Sie den systematischen Mord an den Juden leugnen? Ist es nicht ein Widerspruch, wenn Sie fordern, dass jeder Herrscher daran gemessen wird, ob er den Menschen Frieden bringt, und gleichzeitig akzeptieren, dass manche Ihrer iranischen Mitbürger Israel die Vernichtung wünschen? Ist es nicht ein Widerspruch, wenn Sie fordern, dass „die Flammen von rassischen, ethnischen und anderen Konflikten“ erstickt werden, und gleichzeitig denen drohen, die Israel als Staat anerkennen – ja ihnen sogar prophezeien, dass sie „im Feuer der islamischen Gemeinschaft verbrennen“ werden, wie Sie im Oktober 2005 gesagt haben?

Sie fordern in Ihrem Brief eine multilaterale Weltordnung. Zu Recht kritisieren Sie, dass einzelne Vetomächte im UN-Sicherheitsrat Resolutionen zurückweisen, die von der Mehrheit unterstützt werden. Ist es dann nicht ein Widerspruch, wenn Sie die weltweite Sorge über den Zweck des iranischen Atomprogramms ignorieren und die internationale Atomenergieorganisation (IAEA) in Ihrem Land bei der Arbeit behindern?

Sie schreiben: „Der Liberalismus und die westliche Form von Demokratie sind nicht in der Lage gewesen, die Ideale der Menschlichkeit zu verwirklichen.“ Hierzu stellen wir fest: Demokratie und Liberalismus sind keine Heilsversprechen. Kein freiheitlich denkender Mensch erwartet von einem Rechtsstaat das Paradies auf Erden. Als Verteidiger der Demokratie strebt man nach dem Ideal von Freiheit und Gerechtigkeit. Der Weg dorthin ist lang und mühsam. Die Menschenrechte mussten in Europa über Jahrhunderte gegen den Widerstand der Kirchen und autokratischer Herrscher erkämpft werden. Noch immer ist die Ungleichheit in Europa groß. Noch immer haben Frauen nicht die gleichen Chancen und die gleiche Stellung wie Männer. Noch immer haben nicht alle Bürger den gleichen Zugang zu Bildung und natürlichen Ressourcen. Aber in Europa muss niemand verhungern oder in menschenunwürdiger Armut leben. Die Sozialordnung ist stabiler und gerechter als die vieler anderer Systeme. Durch transparente Gesetze garantiert der Rechtsstaat das Wohl der Bürger. Durch das unabhängige Zusammenspiel von Parlament, Rechtssprechung, ausführenden Organen und den Medien wird die Macht in Balance gehalten. Der seit Jahrhunderten anhaltende wirtschaftliche Erfolg Europas ist eine Folge davon.

Nur wer blind gegenüber den Tatsachen und unempfindlich für das Leid anderer ist, kann die bestehende Weltordnung für fair halten. Aber daraus folgt nicht, dass man den Menschen die Freiheit rauben darf, um ihnen Gleichheit zu schenken. Nur auf der Grundlage von Freiheit und Sicherheit können die Menschen ihre Möglichkeiten entfalten, die Wirtschaft und Wissenschaft vorantreiben, Kultur schaffen und das Leben genießen.

In Europa ist eine Argumentationskultur entstanden, in der man den anderen im Dialog und nicht durch Verbote und Gewaltandrohung für sich gewinnen will. Ihren Brief verstehen wir als ein Gesprächsangebot im Geiste dieser Kultur. Sie wollen den Präsidenten der Vereinigten Staaten mit Argumenten überzeugen. Gehen Sie einen Schritt weiter: Tauschen Sie auch mit Ihren Kritikern Argumente aus! Lassen Sie Ihre Studenten nicht nur Fragen stellen, sondern auch Antworten geben!

Hochachtungsvoll, Philipp Hübl, Andreas Barthelmess, Stefan Börnchen, Julian Hanich