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Archiv-Artikel

Was geschah im Internat?

MEDIEN Wenn Opfer sich melden, klingeln bei der Presse die Alarmglocken. Aber wem soll man glauben, wenn die Beweise fehlen?

BERLIN taz | Im September, als alle Welt über die einstige Pädophilenfreundlichkeit der Grünen diskutierte, erreichte die taz ein Brief. Er war sechs Seiten lang und handelte von „sexueller und körperlicher Gewalt und Demütigungen“ an einem Reforminternat in den 80er Jahren. Der Autor des Briefs, selbst ehemaliger Internatler, wollte Gerechtigkeit für sich und die anderen Opfer. Sofort kamen Gedanken an die grausigen Missbrauchsfälle in der Odenwaldschule auf. Nicht schon wieder ein Internat!

Beim Treffen im Café schilderte der Mann, wie der Direktor damals Mitschülerinnen sexuell bedrängte. Obwohl sich bereits Opfer von Übergriffen gemeldet hätten, spiele die Privatschule die Vorfälle herunter. Zum Abschied übergibt der Mann ein Buch, das er selbst geschrieben hat. Einen Internatsroman.

Im Buch hören Oberschüler mit, wie der Direktor eine Mitschülerin vergewaltigt, am nächsten Morgen ist das Mädchen spurlos verschwunden. Die Freunde, die zur Polizei gehen, werden schikaniert. Der Direktor sorgt persönlich dafür, dass der Protagonist durch das Abi fällt.

Anruf beim Autor: Er habe das Buch „Roman“ genannt, aus Angst vor den Anwälten des Internats. Aber eigentlich seien die geschilderten Ereignisse real.

Anruf beim Altschülerverein: Es habe „die ein oder andere Fummelei“ gegeben beim damaligen Direktor, der mittlerweile starb. Aber nichts Ernstes und „nur mit über 16-Jährigen“. Und die Vergewaltigung? Nie davon gehört. Der Roman, sagt der Vorsitzende, sei trotzdem nicht aus der Luft gegriffen. „Da war schon was.“ Aber was?

Anruf beim Verein Glasbrechen, an den sich laut Autor mehrere Opfer gewandt hätten. Dort weiß man nur von einem Fall: Eine Altschülerin habe den Schulpsychologen der Übergriffigkeit bezichtigt, man habe diesen dann vorzeitig pensioniert. Und der Direktor? Auf der Polizeidienststelle in der Nähe des Internats erinnert man sich an keine Anzeige wegen Vergewaltigung. Über den Direktor weiß man nur, dass in seiner Amtszeit „die Schülerzahlen dramatisch gesunken“ seien. Aber warum?

Besuch im Internat am Waldrand. Die Direktorin sagt, Aufklärung liege ihr am Herzen. Man habe eine Ansprechperson installiert. Aber es habe sich bisher kein Opfer gemeldet. Trotzdem hat die Direktorin die Porträts ihrer Vorgänger aus der Eingangshalle entfernt.

Telefonate mit Freunden des Autors, die sagen, er habe sich da in etwas verrannt. Mails an Vorstandsmitglieder, die unbeantwortet bleiben. Gespräche mit einer Redakteurin, deren Redaktion von den Rechtsanwälten des Internats massiv unter Druck gesetzt wurde. Ihr Artikel erschien nie.

Was bleibt, ist Unsicherheit: Erfindet da einer Verbrechen, die nie stattgefunden haben? Oder wirkt der lange Arm eines gut vernetzten Täters noch über dessen Tod hinaus? Am Ende fehlen Beweise, die nur die Opfer von damals erbringen können. Wenn es sie denn gibt.

NINA APIN