: Abschied nach Moskauer Zeit
EIN ZUG NACH NIRGENDWO Am Samstag geht der letzte Direktzug von Berlin ins sibirische Nowosibirsk auf Reisen. Unser Autor lässt das schwerfällige, langsame und unbequeme Relikt einer vergangenen Epoche zu Wort kommen
VON PHILIPP GOLL
Für Dich wird es ein gewöhnlicher Tag sein, für mich ist es der Tag meines Abschieds.
Ich schreibe Dir vor meiner letzten Fahrt nach Sibirien. Viele Jahre befuhr ich Europas längste Direktverbindung. Die Schienen führten mich von Berlin nach Nowosibirsk. Das sind mehr als 5.000 Kilometer. Mein Fahrplan zählte vier Tage.
Bis heute ist es für mich ein Rätsel, warum mein Ziel in Europa liegen soll; unterscheidet sich doch die Spurweite der Eisenbahngleise in Westeuropa von jener an meinem Ziel um genau 89 Millimeter. Ein feiner Unterschied, der Welten trennt. Er wurde im 19. Jahrhundert zum Schutze des Zarenreichs gegen Eroberungsversuche westlicher Mächte eingeführt. Doch geriet er schnell zum Verhängnis. Wie gern hätten ich und all jene, die schon lange vor mir auf der eisernen Straße durch Asien verkehrten, Waren und Passagiere transportiert, von West nach Ost und umgekehrt. Allein, es ging nicht so zügig, man musste erst Wege finden, uns umzubetten.
Ich schreibe Dir über eine Reise, in der fünf Zeitzonen durchquert werden, die aber nur eine einzige Zeit kennt. Seit ich Denken kann, fahre ich nach Moskauer Zeit, ganz gleich, wo ich Zwischenstation machte. Das gilt auch für die Uhren in den Bahnhöfen. Für meinen geistigen Vater, Zar Alexander III., waren wir die Eisernen Botschafter Moskaus. Wir sollten Europa nach Asien bringen. Vielleicht unterstellte man uns aus diesem Grunde seiner Zeitrechnung.
Wir waren des Zaren Stolz im 19. Jahrhundert. Wie meine Brüder und Schwestern in Amerika den Wilden Westen erschlossen, so sollten wir den Fernen Osten bändigen. Auf unserem Rücken erstritt sich Moskau das sibirische Territorium. Wir waren Mittel der Ausbeutung sibirischer Bodenschätze und Mittel der Kolonialisierung. Die Moskauer Zeit, die uns regiert, ist eine der Klammern, die dieses Riesenreich zusammenhalten soll.
Ich schreibe Dir von einer Reise in ein Land, das Russland heißt und zugleich etwas anderes ist. Man nennt Sibirien auch den achten Kontinent, der nur auf dem Papier zu Russland gehört. Hier gab es keine Leibeigenschaft, welche einer unterwürfigen Mentalität einen Nährboden hätte bereiten können. Die Bewohner sind Nachfahren von jahrhundertealten Völkern, Opfer von Stalins Umsiedlungsterror; von Fallenstellern, desertierten Soldaten und Häftlingen. Ein Melting Pot, der jeglicher Rede vom „Russen“ spottet. Vielleicht ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Sibirien sich gegen Moskau auflehnt.
Ich schreibe Dir von einer Reise mit lauter Verrückten. Die Menschen, die ich in meinem Bauch transportierte, wissen wohl nicht, dass es Flugzeuge gibt, die sie für weniger als die Hälfte des Fahrkartenpreises und viel schneller ans Ziel bringen. Ich weiß nicht, warum sie diese Beschwerlichkeiten auf sich nehmen. Kommen die denn erst zu sich, wenn die eintönigen Landschaften des westsibirischen Tieflands an ihnen vorbeiziehen? Ist ihr Leben denn so arm an Abenteuern, dass sie sich nachts an den Grenzübergängen zwischen Deutschland, Polen, Belarus und Russland den Demütigungen schroffer Beamter aussetzen müssen? Ich war noch nie auf dem Mount Everest, aber ich habe einigen Geschichten über ihn gelauscht. Die Fahrt mit mir stelle ich mir ähnlich vor wie seine Besteigung, zumal sie im Superlativ beworben wird: Schnee und Eis wohin das Auge auch blickt, man trägt spezielle Kleidung, die hier zwar nicht wattiert ist, aber immerhin Sportanzügen gleicht. Selbst die eigene Verpflegung muss man mitschleppen. Am Ziel dann sind die meisten völlig erschöpft. Sie beruhigen sich dann selbst und sagen, der Weg sei das Ziel.
Ich schreibe Dir von einer Reise, in der die Leute weniger Neues entdecken denn alten Phantasien begegnen. Die Großstädte des Landes, das ich durchquere, sind sehr modern. Glitzernde Fassaden nehmen die Jetsetter ein, herausgeputzter imperialer Pomp befriedigt die Geschichtskundigen. Von den Schienen aus aber sieht man ein Land im Stillstand. Felder, Birkenwälder, Steppe und Holzdörfer säumen abwechselnd unsere Trasse auf dem Weg nach Nowosibirsk. So war es vor hundert Jahren, so ist es heute.
Wenn ich an den Bahnhöfen verschnaufe, kommen, wie beim Wal, die kleinen Fische, die parasitenähnlich bei mir Gewinn suchen. Auf den Bahnsteigen bieten Händler Hähnchenschenkel an, verkaufen gegarte Kartoffeln, Süßigkeiten und Bier. Die bäuerliche Speisekarte und zur Schau gestellte Lebensechtheit treibt meinen Passagieren die Tränen in die Augen. Täten meine Gäste einen Schritt aus der Empfangshalle auf den Bahnhofsvorplatz, sie sähen Hot-Dog-Buden und Sushi-Läden wie sie in Russland überall zu sehen sind.
Ich schreibe Dir aus einer Stadt, deren Schicksal so eng mit mir verknüpft ist, wie zwei sich Liebende es sind. Ich war es, die sie erschuf, und sie war es, die mir einmal einen Palast baute, der in ganz Russland seines gleichen sucht. Treu brachte ich Menschen in die Stadt, auch wenn ich wusste, dass sie schlecht von ihr reden. Doch auch sie hat längst begonnen, mich zu vergessen.
Ich schreibe Dir ein letztes Mal, ich schreibe Dir aus einer vergangenen Epoche. Ich bin schwer und langsam, so hat man mich konstruiert. Diesem Umstand ist meine vorgeschriebene Bahn zu verdanken, die sich am Horizont orientiert. Doch heute will man den Kosmos bereisen. Nachdem meine Vorfahren die fernöstliche Küste in Wladiwostok erreicht hatten, suchten sich unsere Ingenieure neue Ziele. In Nowosibirsk gibt es Plätze und Museen, die den Pionieren der Raumfahrt gewidmet sind. Ihnen gehört die Zukunft. Für mich gibt es kein Denkmal – und wird es auch keines geben. Ich bin unbequem geworden. Ich behandele meine Gäste nicht gerade zärtlich, ich habe Falten und Risse, durch die der Wind zieht. Ich bin nicht geschaffen für diese neue Welt der gleitenden Flüge und funkelnden Oberflächen.
■ Der Autor bloggt unter http://blogs.taz.de/sibirien/ über das „Neue Sibirien“