Die Wahrheit liegt auf dem Zauberberg

FUSSBALL „Fifa14“ oder „PES2014“? Welches Videospiel erfolgreicher wird, steht bei Thomas Mann

VON MAIK SÖHLER

Von Settembrini lernen, heißt überleben lernen. Im Angesicht des drohenden Untergangs Haltung zu wahren, das macht der Figur des Settembrini in Thomas Manns Roman „Zauberberg“ so schnell niemand nach. Und wenn doch, dann wäre es schön, wenn dieser jemand der Spielehersteller Konami wäre, der den Fußball-Blockbuster „Pro Evolution Soccer (PES)“ produziert.

Jedes Jahr beginnt sechs Wochen vor Weihnachten ein bizarrer Streit zwischen den Fans der Fußball-Spieleserie „Fifa“ und jenen des Konkurrenzprodukts „PES“. In diesem Jahr ist es nicht anders, kurz vor dem 24. Dezember wird der Höhepunkt erreicht sein. Unterm Baum entscheidet sich, welcher Konkurrent den Kampf ums meistverkaufte Fußballspiel für PC und Konsole gewinnt.

Betriebswirte und Juristen der Hersteller kaufen sich gegenseitig die Nutzungsrechte für nationale und internationale Ligen weg, sodass der andere wahlweise eine ganze Liga, den BVB oder einzelne Spieler nicht benutzen darf. Und dabei liegt „Fifa“ meistens vorn. Zu überlegen ist das Spiel samt gut gepflegter Datenbanken und zahlreichen Deals mit Verbänden und Vereinen. Doch „PES“ gibt nicht auf. Programmierer verfeinern die Grafik, das Gameplay und den Sound. Am Ende ist der eine bei den Kommentatoren besser, der andere beim Multiplayermodus. Fans feiern diese Kleinigkeiten bekenntnisgleich als Ausdruck ewiger Wahrheit, während sich der 08/15-Daddler fragt: „Geht’s noch?“

Beide kombiniert ergäben das perfekte Pixelgekicke. Und es wäre ein Monopol. Ein böses Wort, Monopol. Aber: Konkurrenz ist auch nicht besser. Jetzt wird es kompliziert. Da wird der Controller plötzlich schwer und das Hirn auch. Der Anarchist Pierre-Joseph Proudhon zog vor 150 Jahren die Konkurrenz dem Monopol vor, da sie mit der Assoziation freier Menschen vereinbar sei, diese sogar fördere. Karl Marx erwiderte, es gehe nicht um die gute Konkurrenz und das schlechte Monopol, sondern um die Synthese aus beidem: „Die Monopolisten machen sich Konkurrenz, die Konkurrenten werden Monopolisten.“ Dies führe am Ende nur zu zügelloser Konkurrenz unter den Monopolisten.

Die Konkurrenz der neuen Spiele „Fifa14“ und „PES2014“ führt zu noch mehr Realismus. Alle Kicker sollen sich „authentischer“ bewegen. Das Spieltempo ist gesunken, Bälle verspringen. Bei „Fifa14“ wird der Realismus auf die Spitze getrieben: Spieler werden mit der Zeit müde, Reaktionen schwerfälliger, Fehlpässe häufen sich. „PES2014“ kontert mit Spielspaß und lässt mehr Tore zu. Beim „realistischen Gameplay“ lag „PES“ jahrelang vorn. Nun nicht mehr. „Fifa“ hat gemäß eines alten Sowjetmottos „überholt ohne einzuholen“. Kann „PES“ noch dagegenhalten?

Es sieht so aus, als sei Konami vorsichtig geworden. Auf Versionen, die sich für die neue Generation von Spielkonsolen eignen, verzichtet der Hersteller. Begründet wird diese Entscheidung mit dem Argument, abwarten zu wollen, wie sich die Geräte verkaufen. Und wenn sie sich gut verkaufen? Dann wäre der Rückstand größer, Konami müsste noch mehr hinterherhecheln. Gibt es keinen Ausweg? Doch. In Thomas Manns „Zauberberg“ kommt es zum Finale zwischen den Romanfiguren Naphta und Settembrini. Sie stehen für die Konkurrenz von linkem Radikalismus, personifiziert im Philosophen Georg Lukácz, und linkem Liberalismus – für den Thomas Mann seinen Bruder, den Schriftsteller Heinrich, zum Vorbild nahm.

Beide debattieren Hunderte Seiten lang über jeden Aspekt der Welt. Als die große Krise naht, kommt es zum Duell. Naphta hat die extremste Form der Konkurrenz, jene ums Leben, gefordert und er wird sie verlieren. Settembrini lässt sich formal aufs Duell ein, verweigert aber den tödlichen Schuss. Naphta richtet sich selbst.

Dem Leser bleibt überlassen, welchen Grund er dafür verantwortlich macht. Ausweglosigkeit? Autonomie? Ist alles nur dem Druck der Konkurrenz geschuldet?

Die Geste Settembrinis, das Duell mit einer simplen Weigerung zu beenden, ist nicht nur eine der schönsten der Weltliteratur. Sinnvoll ist sie auch. Im „Zauberberg“ folgt kurz darauf die große europäische Krise, der Erste Weltkrieg. Settembrini besinnt sich angesichts Duell und Krieg auf die eigenen Stärken. Wer, den Tod vor Augen, nicht tötet, um zu überleben, ist auch innerlich immun, wenn Krieg und Krise zum Mitmachen einladen.

Diese Geste wäre eine, die Konami gut stünde. Und sie würde die Frage aufwerfen, ob auch in Zukunft die Konkurrenz mit „Fifa“ gewollt ist. Oder ob ein eigener Weg mit mehr abseitigen Innovationen nicht besser wäre. Firmen sind keine Subjekte, sie haben kein Gewissen. Doch Videospieler haben eins. „PES“ hat seit Jahren genügend Fans. Sie zu fragen, wie es weitergehen soll, wäre ein guter Anfang.

 Videospiele mit philosophischem Überbau – ab jetzt regelmäßig an dieser Stelle